Versetzung gefährdet: So mahnend fiele das
Zeugnis für den Vorstand und den Aufsichtsrat von Linde aus, wenn
ihre Aktionäre Lehrer wären. Auf der Hauptversammlung gab es die
Zensuren für das Durcheinander im Vorstand im vergangenen Jahr und
für das von reichlich Gegenwind begleitete Bemühen um eine Fusion mit
Praxair: ein Ungenügend in der Unternehmensführung und ein Mangelhaft
in der Kommunikation mit dem Kapitalmarkt.
Der einstige Musterschüler Wolfgang Reitzle musste dieses Mal eine
Menge Tadel einstecken. Vor einem Jahr bejubelten Aktionäre noch
seine Rückkehr in den Münchner Konzern – auch wenn seine Wahl in den
Aufsichtsrat mit 93% der Stimmen nicht der Note Eins mit Stern
entsprach.
Nun weckt Reitzle als treibende Kraft und Architekt einer Fusion
auf deutscher Seite zu Recht Zweifel an einer sauberen Trennung der
Aufgaben von Vorstand und Aufsichtsrat. Offenbar läuft er sich schon
für seine Rolle als Chairman eines gemeinsamen Konzerns warm. Diese
Funktion gäbe ihm eine größere Macht im Vergleich zum
Aufsichtsratsvorsitzenden.
Wie wichtig ihm das deutsch-amerikanische Projekt ist, bewies
Reitzle mit einer flammenden Rede vor der Abstimmung auf dem
Aktionärstreffen. Zu spüren war seine Wut, die sich in letzter Zeit
wegen der Kritik an ihm – vor allem von der Arbeitnehmerseite – und
am geplanten Zusammenschluss aufgestaut hatte.
Dagegen verpasste Vorstandschef Aldo Belloni die Chance, die
Aktionäre von den Vorzügen einer Fusion zu überzeugen. Er blieb mit
sperrigen Begriffen wie „transformatorische Projekte“ vage. Selbst
auf Nachfrage blieb er klare Worte schuldig. Das passt zu den
spärlichen Informationen, mit denen Linde die Anstrengungen für eine
Fusion bisher begleitet.
Auch für die Verfechter der Aktionärsdemokratie war die
Hauptversammlung eine Enttäuschung. Die Forderung der Deutschen
Schutzvereinigung, die Anteilseigner abstimmen zu lassen, verhallte
ohne Resonanz. Der Linde-Vorstand verschanzt sich weiterhin hinter
juristischen Argumenten. Und die Aktionärsvereinigungen sind sich
uneins: Die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger hält das Angebot
zum Aktientausch für ausreichend – ohne eine Abstimmung. Der
entscheidende Schritt für oder gegen eine Fusion folgt jedoch
demnächst im Aufsichtsrat. Die Arbeitnehmerseite zu überzeugen oder
sich mit seiner Zweitstimme durchzusetzen wird Reitzles große Kraft-
und Machtprobe.
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