Thüringen hat gewählt und die SPD-Basis hat über ihre neue
Parteiführung abgestimmt. Beide Wahlen hinterlassen eine große Portionen
Ungewissheit, obwohl die Sehnsucht nach Sicherheit sehr groß ist.
Die Wähler in Thüringen haben sich für das Bekannte entschieden: Der amtierende
Ministerpräsident und Landesvater Bodo Ramelow ist bestätigt, seine Linkspartei
sogar gestärkt. Die rot-rot-grüne Landesregierung hat dennoch ihre knappe
Mehrheit verloren. Der mächtige Auftrieb der AfD zur zweitstärksten Kraft stürzt
die Landespolitik in Erfurt vorerst in Ratlosigkeit. Eine Koalition mit
Regierungsmehrheit ohne die Rechtspopulisten könnte nur eine Mesalliance
zwischen Linker und CDU bieten.
Am Tag nach der Wahl ist auch in der SPD die Lage ernüchternd. Nicht nur, dass
die Partei in Thüringen auf ein desaströses einstelliges Wahlergebnis
abgerutscht ist. Der Schönheitswettbewerb um die neue Parteiführung im Bund mit
zahlreichen Auftritten der diversen Kandidatenduos hat nach den bitteren
Rücktritten von der SPD-Spitze das Gegenteil des Erhofften bewirkt. Kein Wind
des Aufbruchs weht durch die Partei. Statt eines klaren Siegers hat das
Verfahren nur einen knappen Vorsprung der Favoriten aus Vizekanzler und
Bundesfinanzminister Olaf Scholz sowie Klara Geywitz aus Brandenburg
hervorgebracht. Mit Mühe schoben sie sich vor das Duo aus dem bereits im
Rentenalter befindlichen früheren Finanzminister Nordrhein-Westfalens, Norbert
Walter-Borjans, und der Bundestagsabgeordneten Saskia Esken.
Die Sehnsucht der Menschen erstreckt sich auf Klarheit und Führung. Das
Wahlergebnis Ramelows zeigt das. Es kommt auf überzeugende Personen an,
weniger auf Parteizugehörigkeit. Ähnlich erklärt sich der Erfolg eines grünen
Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg. Die große
Koalition in Berlin geht nun erst einmal in eine vage Verlängerung.
Scholz/Geywitz stehen für den Verbleib der SPD im Regierungsbündnis mit der CDU.
Walter-Borjans/Esken mildern ihre Fluchtbekundungen gerade ab. Sie wollen über
Inhalte sprechen. Auch da tut sich die große Koalition in Berlin schwer. Nicht
einmal bei der Grundrente ist die beabsichtigte Einigung noch vor der
Thüringen-Wahl gelungen.
Die Zeit ist reif für neue Wege, wenn die Zahl der Fraktionen in den Parlamenten
wächst und stabile Koalitionen verhindert. Thüringen kann eine
Minderheitsregierung testen. Die fragmentierten politischen Verhältnisse werden
erst einmal bleiben – auch im Bund.
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