Michel Barnier hat der britischen
Premierministerin Theresa May unabsichtlich die Chance zu einem
Richtungswechsel in den Brexit-Verhandlungen gegeben. Indem der
EU-Verhandlungsführer das von ihrem Kabinett auf dem Landsitz
Chequers mühevoll ausgehandelte Papier vom Tisch wischte, ermöglichte
er ihr den gesichtswahrenden Abschied von einem faulen Kompromiss,
für den sie im Parlament ohnehin keine Mehrheit mehr gefunden hätte.
Sie könnte nun auf ein Freihandelsabkommen wie das zwischen der EU
und Kanada hinarbeiten, allerdings ohne Sonderstatus für Nordirland.
Bis zu dessen Abschluss ließe sich, wie mit vielen anderen Ländern
auch, nach den Regeln der WTO Handel mit Resteuropa treiben.
May hat bislang nichts dergleichen unternommen. Aber die
vergangenen Monate haben gezeigt, dass in der britischen Politik
nichts unmöglich ist. Um zu verstehen, was alles geht, muss man sich
klarmachen, welche Implikationen das Brexit-Votum für
Unterhausabgeordnete hat. Hätte es sich bei der Volksabstimmung um
eine Parlamentswahl gehandelt, wäre „Vote Leave“ nach Rechnung
von David Camerons Meinungsforscher Andrew Cooper auf 400 Sitze
gekommen – eine Mehrheit von 150. Das hört sich gleich ganz anders an
als eine Mehrheit von 52:48. In den Wahlkreisen von
Fürsprechern Brüssels wie dem derzeitigen Schatzkanzler
Philip Hammond oder der europhilen Anna Soubry stimmten die Menschen
für den Austritt. Seitdem haben sich die Fronten weiter verhärtet.
Ein erneutes Referendum würde ein ähnliches Ergebnis hervorbringen,
auch wenn von Brexit-Gegnern beauftragte Umfragen einen
Meinungsumschwung belegen sollen.
Geht es May um den Machterhalt, wird sie sich auf die Brexiteers
zubewegen, die ihre Kampagne für einen klaren Schnitt noch vor der
Parteikonferenz diesen Monat beginnen werden. Mays Rivale Boris
Johnson hat sich bereits in Stellung gebracht. Viele radikale
Austrittsbefürworter wurden bereits Mitglieder der konservativen
Partei. Vorbild ist die Eintrittsstrategie der Momentum-Aktivisten,
mit deren Hilfe sie den Altlinken Jeremy Corbyn an die Spitze
der Labour Party beförderten.
Von Labour ist wenig Widerstand zu erwarten, schließlich stimmten
mehr als zwei Drittel ihrer Wahlkreise für den Austritt. Und für die
Wirtschaft wäre ein Ende mit Schrecken besser als ein Schrecken ohne
Ende, den etwa eine Verlängerung der von Artikel 50 vorgegebenen
Frist bis zur Wirksamkeit des Austritts mit sich bringen würde.
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