Börsen-Zeitung: Nichts ist, wie es scheint / Kommentar zur Brexit-Lage in Großbritannien von Andreas Hippin

Theresa May hat man selten so fröhlich gesehen
wie in dem Moment, als ihr Nachfolger Boris Johnson im Unterhaus eine
demütigende Abstimmungsniederlage einfuhr. Und groß war das Hallo,
als der Brexit-Gegner Phillip Lee zu den Liberaldemokraten wechselte
und damit die Tories um die Mehrheit brachte. Mittlerweile dürfte May
und vielen anderen Gegnern des britischen Premierministers jedoch
klar geworden sein, dass Johnson ein paar Züge weiter gedacht hat als
sie.

Denn nichts ist, wie es scheint. Der ehemalige Londoner
Bürgermeister profitiert von dem vermeintlich historischen Votum der
Abgeordneten gegen seine Strategie für den EU-Austritt. Mit
Ankündigungen wie der, das Parlament in eine verlängerte Sommerpause
zu schicken, provozierte er seine Parteifeinde so lange, bis sie
schließlich gegen die eigene Regierung stimmten und ihm damit die
Möglichkeit gaben, sie aus der Fraktion auszuschließen. Dass sich
ausrangierte Politiker wie Kenneth Clarke und Philip Hammond bei
Neuwahlen als unabhängige Kandidaten wieder ein Mandat erkämpfen
werden, darf man getrost für unwahrscheinlich halten.

Und dass Johnson nun noch weniger Chancen auf eine Mehrheit im
Parlament hat, kommt ihm ebenfalls zugute. Denn nun kann er nicht
dafür verantwortlich gemacht werden, wenn das Vereinigte Königreich
all seinen Versprechungen zum Trotz über den 31. Oktober hinaus in
der EU bleiben muss. Brüssel wird die Austrittsfrist allen
anderslautenden Drohungen zum Trotz gerne verlängern. Ein
ungeregelter Brexit, den Johnson ohnehin nicht anstrebt, wird dadurch
vermieden. Vieles spricht dafür, dass Johnson all das mit seinem
Chefstrategen Dominic Cummings geplant hat – vielleicht nicht ganz
genau so, wie es schließlich kam, aber die Richtung stimmt für ihn.

Oppositionsführer Jeremy Corbyn, der in den vergangenen zwei
Jahren keine Möglichkeit ausließ, Neuwahlen zu fordern, wird sie
nicht lange verhindern können. Und weil sich Labour und
Liberaldemokraten nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen können,
haben die Tories gute Chancen, auch ohne die nordirischen Unionisten
eine arbeitsfähige Mehrheit zu bekommen. Johnson hätte dann ein
Mandat für weitere fünf Jahre, ein Kabinett, das seinen Kurs
unterstützt, und eine Fraktion, die hinter ihm steht. Er kann
gestärkt weiter mit der EU verhandeln. Nichts ist wahr, und alles ist
möglich, schrieb Peter Pomerantsev über Putins Russland. Westminster
beginnt, dem zu ähneln.

(Börsen-Zeitung, 06.09.2019)

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