Relativ zur Hektik an den Finanzmärkten und zum
Tempo, mit dem Dividendentitel in den zurückliegenden Wochen nach
unten gerauscht sind, machen die Aktienanalysten derzeit den Eindruck
eines eher ruhig veranlagten Menschenschlages. Um gerade einmal 6%
sind die Prognosen für den aggregierten Gewinn je Aktie der
Dax-Unternehmen im nächsten Jahr seit Anfang August gesunken, während
der Index 27,5% eingebüßt hat. Mit einer 723 Indexpunkten
entsprechenden Konsensprognose bedeutet das beim Schluss vom Freitag
von 5197 Zählern ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von 7,2.
Daraus zu schließen, dass der Aktienmarkt nun so extrem günstig
bewertet ist, dass schleunigst zum Einstieg zu blasen ist, wäre
jedoch verfrüht. Tatsächlich haben die Analysten erst begonnen, ihre
Schätzungen der sich verändernden Lage anzupassen. Sie können nicht –
und sollen auch nicht – jeder Bewegung des Marktes überstürzt
hinterhereilen. Allerdings müssen sie auch darauf achten, ihre
Schätzungen nicht zu spät anzupassen, was zu einer Entwertung der
Prognosen durch die Realität führen würde.
Bei Investoren melden sich bereits Kritiker zu Wort. „Momentan
eskomptieren die Aktienmärkte mit rund 50%iger Wahrscheinlichkeit
eine Rezession in der westlichen Welt sowie ein Nullwachstum für
2012″, so die ING Investment Management. „BeiBundesanleihenund
US-Treasuries mit Renditen von unter 2% lassen sich Anleiheinvestoren
ihre Rezessionsängste nicht ausreden. Am anderen Ende des Spektrums
lassen sich die Aktienanalysten nervtötend lange Zeit, die
Marktsignale wahrzunehmen. Zwar passen sie ihre Prognosen nach unten
an, erwarten aber dennoch für 2012 einen Anstieg der
Unternehmensgewinne weltweit um über 10%.“ Sie erwarteten ein
anhaltend kräftiges Wirtschaftswachstum, womit sie jedoch falsch
lägen.
Auch andere Warnsignale deuten darauf hin, dass die
Gewinnprognosen immer dringenderen Anpassungsbedarf haben. In den USA
liegt der Einkaufsmanagerindex des Institute for Supply Management
für den verarbeitenden Sektor nur noch knapp über der Schwelle von 50
Punkten. Ein Wert unterhalb der Schwelle signalisiert rückläufige
Aktivität. In der abgelaufenen Woche ist nun der Einkaufsmanagerindex
für den Euroraum unter 50 Zähler gesunken. Und der ebenfalls bekannt
gegebene Index für China lag zum dritten Mal in Folge unter 50
Punkten. Verbraucher- und Anlegerstimmungsindikatoren sowie die an
Tempo gewinnende Abwärtsrevision bei den Wachstumsprognosen zeigen
ebenfalls an, dass die Gewinnschätzungen korrekturbedürftig sind.
M.M. Warburg nimmt die Analysten jedoch in Schutz. Es überrasche
nicht, dass sich Unternehmensanalysten schwer täten, mit der
aktuellen Entwicklung am Aktienmarkt Schritt zu halten. Vor dem
Hintergrund der hervorragenden berichteten Gewinne der letzten
Quartale sowie der vollen Auftragsbücher und der durchweg positiven
Einschätzung der Unternehmen für die nächsten Monate könnten
Analysten mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Instrumentarium gar
nicht anders, als bei fallenden Kursen eher noch positiver in die
Zukunft zu schauen. Die Diskrepanz zum Eindruck, den
Stimmungsindikatoren geben, erklärt das Bankhaus folgendermaßen: Es
mache einen Unterschied, ob ein Unternehmen im direkten Kontakt mit
Investoren und Analysten stehe und dort seine Lageeinschätzung
mitteile oder ob man aus der anonymen Masse heraus eine allgemeine
Einschätzung abgebe, die keine direkten Konsequenzen für die
Wahrnehmung des Unternehmens am Markt mit sich bringe. Es spreche
vieles dafür, dass aus einer anonymen Position heraus eine
aussagekräftigere Einschätzung erfolge als im direkten Kontakt mit
Marktteilnehmern.
Was die Gewinnprognosen und damit die Bewertungsbeurteilung
betrifft, rückt nun allerdings die Stunde der Wahrheit näher. Anfang
Oktober beginnt in den USA die Berichtssaison zum dritten Quartal, in
der die Unternehmen üblicherweise auch zu den Aussichten des nächsten
Jahres Stellung nehmen. Dass damit mehr Licht in die Marktlage
hineinkommt, wird aber nicht unbedingt angenehm sein. Nach
Einschätzung der WestLB ist der Markt viel zu zuversichtlich, vor
allem für die zyklischen Unternehmen. Für Letztere erwartet sie eine
Ergebnisrezession und liegt damit zwischen 15% bis 20% unter den
Konsensschätzungen. Der Markt müsse sich vor diesem Hintergrund an
den Gedanken einer Welle von Gewinnwarnungen vor der
Quartalsberichtssaison gewöhnen.
(Börsen-Zeitung, 24.9.2011)
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