Nach zwei Sondergipfeln, einem normalen Gipfel,
tagelangen Sondierungen in kleiner und großer Runde haben es die
europäischen Staats- und Regierungschefs noch immer nicht geschafft,
sich auf das Führungspersonal der wichtigsten EU-Institutionen zu
einigen – allen voran auf die Nachfolge von Jean-Claude Juncker an
der Spitze der Europäischen Kommission. Immer wieder verhindern
persönliche Eitelkeiten, parteipolitische Machtansprüche oder
nationale Taktierereien eine Verständigung – obwohl das strategisch
so wichtige Präsidentenamt in der Europäischen Zentralbank aus dem
Personaltableau schon ausgeklammert wurde. Auf den ersten Blick
vermittelt der Rat ein äußerst trauriges Bild nach außen.
Auf der anderen Seite sollte aber auch einmal die Komplexität und
Bedeutung dieser Personalentscheidungen anerkannt werden. In Berlin
weiß man mittlerweile, wie lange Koalitionsverhandlungen dauern
können – und dort gilt es weit weniger Interessen unter einen Hut zu
bringen. Auf EU-Ebene ist bei der Mehrheit der Regierungschefs
zurzeit der Wille zu spüren, ihrer Verantwortung gerecht zu werden,
das Ergebnis der Europawahl zu respektieren, einen möglichst breiten
Konsens zu finden und, falls nötig, auch einmal Kompromisse zu
machen. Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel bereit war, auch einen
Sozialdemokraten als Kommissionschef zu akzeptieren, ist ja auch
nicht selbstverständlich.
Und je länger der Europäische Rat jetzt um eine Lösung ringt –
heute Vormittag soll es einen neuen Anlauf geben -, umso drängender
wird die Frage: Was macht eigentlich das Europäische Parlament? Was
ist eigentlich aus dem vor der Europawahl und auch noch kurz danach
selbstbewusst geäußerten Anspruch geworden, die Suche nach dem
EU-Führungspersonal nicht mehr nur dem Rat zu überlassen, sondern das
Parlament ins Zentrum der Entscheidungen zu rücken? Die
Fraktionschefs des EU-Parlaments hatten nach der Europawahl
versucht, eigene Mehrheiten im Personalpoker zu organisieren. Dabei
sind sie kläglich gescheitert. Und niemand versucht mittlerweile
mehr, die Blockaden im Abgeordnetenhaus zu lösen.
Anstatt den eigenen Gestaltungsanspruch zu untermauern, hat sich
das neue EU-Parlament schon vor seiner heutigen konstituierenden
Sitzung in Straßburg selbst entmachtet. Einen konstruktiven Beitrag
zu den komplexen Personalentscheidungen sucht man vergebens. Auch
deshalb ist das Ringen um eine Konsenslösung im Europäischen Rat
nicht so schlecht, wie es scheint.
(Börsen-Zeitung, 2.7.2019)
Pressekontakt:
Börsen-Zeitung
Redaktion
Telefon: 069–2732-0
www.boersen-zeitung.de
Original-Content von: Börsen-Zeitung, übermittelt durch news aktuell