Henrik Enderlein und Jean Pisani-Ferry, beide
Professoren an der Hertie School of Governance, übergaben heute in
Paris ihren Bericht „Reformen, Investitionen und Wachstum: Eine
Agenda für Frankreich, Deutschland und Europa“ an die Minister Sigmar
Gabriel und Emmanuel Macron. Die beiden Wirtschaftsexperten waren
Mitte Oktober von der deutschen und der französischen Regierung
gebeten worden, Empfehlungen zur Stärkung des Wirtschaftswachstums zu
erarbeiten.
„Frankreich und Deutschland müssen jetzt und gemeinsam handeln.
Die größte Gefahr, die wir zur Zeit sehen, besteht darin, dass wir
uns zu großen Projekten und Reformen bekennen, aber keine greifbaren
Schritte zu ihrer Umsetzung unternehmen“, schreiben die Autoren in
dem 50 Seiten starken Papier unter Verweis auf die 2017 in beiden
Ländern anstehenden Wahlen.
Die Empfehlungen im Überblick:
„1. Reformen sowohl in Frankreich als auch in Deutschland: Die in
beiden Ländern notwendigen Reformen sind unterschiedlich, da
Deutschland und Frankreich unterschiedliche Herausforderungen zu
bewältigen haben. In Frankreich besteht das Problem, dass
kurzfristige Unsicherheiten das langfristige Vertrauen schädigen,
doch die langfristigen Aussichten sind positiver. In Deutschland
führen die langfristigen Unsicherheiten zum Verlust des kurzfristigen
Vertrauens, aber die kurzfristige Zukunftsperspektive ist
vergleichsweise gut. Wir befürchten, dass es in Frankreich an Mut für
entscheidende Reformen mangelt. Was Deutschland betrifft, so fürchten
wir Selbstzufriedenheit.
2. Reform-Cluster: Unsere Reformvorschläge konzentrieren sich auf
Schwerpunktbereiche, in denen wir in Deutschland und Frankreich
dringenden Handlungsbedarf sehen. Wir schlagen vor, Maßnahmen, die
auf dasselbe Ziel ausgerichtet sind, in „Clustern“ zu bündeln und
sich auf eine kleine Anzahl von solchen Clustern zu konzentrieren. In
Frankreich wären dies folgende Cluster: (i) Übergang zu einem neuen
Wachstumsmodell auf Grundlage eines Systems, das mehr Flexibilität
mit Sicherheit für Arbeitnehmer verbindet („Flexicurity“) und Reform
des Rechtssystems, (ii) Schaffung einer breiteren Basis für
Wettbewerbsfähigkeit und (iii) Aufbau eines schlankeren, effektiveren
Staates. In Deutschland sind folgende Cluster zu bilden: (i)
Bewältigung der demografischen Herausforderungen, insbesondere durch
Vorbereitung der deutschen Gesellschaft auf höhere Zuwanderungsraten
und durch eine stärkere Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt, (ii)
Übergang zu einem inklusiveren Wachstumsmodell auf Grundlage einer
höheren Nachfrage und Schaffung eines besseren Gleichgewichts
zwischen Ersparnissen und Investitionen. Solche Reformen sind nicht
dazu gedacht, dem jeweiligen Nachbarn oder sonst jemandem zu
gefallen, sondern um bessere inländische Bedingungen für
Arbeitsplätze, langfristiges Wachstum und Wohlstand in jedem Land und
in Europa zu schaffen.
3. Eine europäische Regulierungsinitiative: Private Investitionen
fällen ein Urteil über die Zukunft. Investitionen erfordern
Vertrauen. In vielen Bereichen spielt die staatliche Regulierung eine
wichtige Rolle bei der Gestaltung der langfristigen Erwartungen. In
der Energiewirtschaft, dem Verkehrswesen und dem digitalen Sektor, um
nur einige Branchen zu nennen, müssen die Regulierungsbehörden die
richtigen Parameter festlegen und Berechenbarkeit gewährleisten.
Investoren müssen Sicherheit dahingehend haben, dass Europa sich fest
dazu verpflichtet hat, den Übergang zu einer digitalen,
emissionsarmen Wirtschaft zu beschleunigen. Die Behörden haben die
große Aufgabe, Unsicherheiten über die zukünftigen CO2-Preise oder
die künftige Regelung für den Datenschutz abzubauen. Dies könnte
einen wesentlichen Beitrag zu höheren Investitionen in Europa
leisten.
4. Investitionen: Die richtig diagnostizierte Investitionslücke in
Deutschland besteht vor allem im privaten Bereich. Zur Steigerung der
Investitionstätigkeit spielen hier wiederum regulatorische Klarheit
und ein schlankerer Rechtsrahmen für die Beilegung von Streitfällen
im Zusammenhang mit Infrastrukturprojekten eine wichtige Rolle. Wir
sind jedoch auch der Ansicht, dass Deutschland sich ein
unvollständiges Regelwerk für seine öffentlichen Finanzen gegeben
hat, in dem zwar der Begrenzung des Schuldenstandes zu Recht ein
verfassungsrechtlicher Status eingeräumt wird, jedoch versäumt wird,
den verbleibenden fiskalischen Spielraum zur Förderung von
Investitionen zu nutzen. Die deutschen Vermögenswerte werden nicht in
ausreichendem Maße erneuert. Ein heruntergekommenes Haus an die
nächsten Generationen zu vererben ist keine verantwortungsbewusste
Form der Vermögensverwaltung. Wir glauben, dass die deutsche
Regierung die Investitionen der öffentlichen Hand erhöhen kann und
auch sollte. Frankreich leidet im europäischen Vergleich nicht an
einem akuten kumulierten Investitionsstau. Die Investitionen
außerhalb des Wohnungsbausektors befinden sich im Vergleich zu
anderen europäischen Ländern auf einem eher hohen Niveau. Bei der
Zuteilung der Investitionsmittel gibt es jedoch Verbesserungsbedarf.
5. Stärkung der privaten und öffentlichen Investitionen: Wir
glauben nicht, dass ein Mangel an Finanzierungsmöglichkeiten das
größte Hindernis für europäische Investitionen darstellt, aber halten
dennoch die Schaffung neuer europäischer Ressourcen für erforderlich:
In einer Situation, in der die Behörden die Banken dazu bewegen
wollen, weniger Risiken einzugehen, ist es ihre Aufgabe zu
verhindern, dass im Finanzsystem eine allgegenwärtige Risikoscheu
entsteht. Aufbauend auf unserer Regulierungsinitiative schlagen wir
vor, frisches öffentliches europäisches Kapital für die Entwicklung
von Instrumenten zur Risikoteilung und zur Unterstützung von
Beteiligungsinvestitionen zur Verfügung zu stellen.
6. Europäischer Fonds: Seit 2007 sind auch die öffentlichen
Investitionen stark heruntergefahren worden. Wir schlagen vor, einen
Europäischen Fonds für Zuschüsse zu öffentlichen Investitionen im
Euroraum zu gründen, der gemeinsame Ziele unterstützen, die
Solidarität stärken und Exzellenz fördern würde.
7. Grenzüberschreitende Sektoren: Frankreich und Deutschland
sollten eine vertiefte Integration in einigen Industriezweigen von
strategischer Bedeutung fördern, wo regulatorische Schranken die
wirtschaftliche Aktivität in besonderem Maße beschränken. Der Aufbau
von „grenzüberschreitenden Sektoren“ zusammen mit unseren Partnern
bedeutet viel mehr als nur eine gemeinsame Koordination und
gemeinsame Initiativen zu vereinbaren: Wir müssen es schaffen, einen
gemeinsamen Rechtsrahmen aufzubauen, ein gemeinsames Regelwerk zu
schreiben, ja sogar eine gemeinsame Regulierungsbehörde einzurichten.
Wir sind der Ansicht, dass der Energiesektor und die digitale
Wirtschaft solche Sektoren sind. Wir schlagen außerdem eine ähnliche
Initiative vor, um die uneingeschränkte Übertragbarkeit von
Qualifikationen, sozialen Rechten und Sozialleistungen zu
gewährleisten.
8. Wiederbelebung unseres gemeinsamen Sozialmodells: Europa ist
mehr als nur ein Markt, eine Währung oder ein Haushalt. Europa wurde
auf der Grundlage gemeinsamer Werte aufgebaut. Jetzt ist es für
Frankreich und Deutschland an der Zeit, gemeinsam das soziale Modell
im Herzen Europas wiederzubeleben und zu erneuern. Dies sollte mit
konkreten Initiativen in den Bereichen Mindestlohnstandards,
Arbeitsmarkt-, Renten- und Bildungspolitik beginnen. In diesen
Bereichen brauchen wir Konvergenz auf der Grundlage eines effektiven
gemeinsamen Handelns. So können wir den deutsch-französischen Raum in
eine wahrhafte Union verwandeln, die auf wirtschaftlicher Integration
und gemeinsamen sozialen Werten fußt.“
(Zitate übersetzt, Wortlaut nicht autorisiert)
Der vollständige (englischsprachige) Bericht ist online abrufbar
unter: http://bit.ly/EnderleinPisani
Die deutschsprachige Version wird in Kürze auf der Webseite der
Hertie School zur Verfügung stehen.
Prof. Dr. Henrik Enderlein ist Vize-Dekan und Professor für
politische Ökonomie an der Hertie School of Governance. Seit Januar
2014 ist er zudem Direktor des Jacques Delors Instituts – Berlin,
einer gemeinsamen Gründung der Hertie School und des Pariser Jacques
Delors Instituts Notre Europe. Nach dem Studium der Politik- und
Wirtschaftswissenschaften an der Sciences Po in Paris und der
Columbia University in New York promovierte er am Max-Planck-Institut
für Gesellschaftsforschung in Köln. Von 2001 bis 2003 war er als
Ökonom bei der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt
beschäftigt, ehe er 2003 Juniorprofessor für
Wirtschaftswissenschaften an der Freien Universität Berlin wurde. CV
und Bilder zum Download unter www.hertie-school.org/enderlein
Prof. Jean Pisani-Ferry ist Generalbeauftragter für politische
Planung der französischen Regierung und seit 2013 Professor für
Ökonomie und Public Management an der Hertie School. Pisani-Ferry
gehörte 2005 zu den Gründern des Brüsseler Think Tanks BRUEGEL. Seine
Karriere umfasst Positionen am französischen Institut für
internationale Wirtschaftsforschung, bei der Group of Economic Policy
Analysis und der Europäischen Kommission. Er lehrte an der
Universität Paris-Dauphine, Ecole Polytechnique und der Université
libre de Bruxelles. Zuletzt erschien von ihm „The Euro Crisis and its
Aftermath“ (Oxford University Press, 2014). CV zum Download unter:
www.hertie-school.org/pisani-ferry
Die Hertie School of Governance ist eine staatlich anerkannte,
private Hochschule mit Sitz in Berlin. Ihr Ziel ist es, herausragend
qualifizierte junge Menschen auf Führungsaufgaben im öffentlichen
Bereich, in der Privatwirtschaft und der Zivilgesellschaft
vorzubereiten. Mit interdisziplinärer Forschung will die Hertie
School zudem die Diskussion über moderne Staatlichkeit voranbringen
und den Austausch zwischen den Sektoren anregen. Die Hochschule wurde
Ende 2003 von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung gegründet und wird
seither maßgeblich von ihr getragen.
Pressekontakt:
Regine Kreitz, Head of Communications, Tel.: 030 / 259 219 113, Fax:
030 / 259 219 444, E-Mail: pressoffice@hertie-school.org