Frankfurt, 20.05.2010. Wie führt ein Drogenhändler sein „Unternehmen“? Diese Frage stellte sich Prof. Dr. Sudhir Venkatesh. Sein Ergebnis: Führungskräfte können viel von den Mechanismen in einer Gang lernen. Zum Beispiel, sich nicht auf Prognosen zu verlassen. „Gerade die Finanzkrise hat die Nichtigkeit unserer Vorhersagen gezeigt“, erklärt Venkatesh vor seinem Auftritt auf dem Manager Meeting Europe am 23. Juni in Frankfurt.
Sich nicht darauf zu verlassen, dass die Regeln von heute auch morgen noch gelten, sei wichtig für Führungskräfte. Ebenso wichtig sei es aber, gegenüber den Mitarbeitern Hoffnung auszustrahlen. „Auch, wenn es falsche Hoffnung ist“, meint Venkatesh im Interview (http://blog.evoworkx-live.com).
Den deutschen Unternehmen schreibt Venkatesh ins Stammbuch, sich die Kandidaten für Führungspositionen genauer anzusehen – und im Zweifelsfall denjenigen einzustellen, der nach einer Niederlage wieder aufgestanden ist. „Jeder Narr kann gewinnen“, betont Venkatesh.
Prof. Dr. Sudhir Venkatesh ist ein preisgekrönter Autor und bekannter Experte für amerikanische Städte. Sein Beitrag zum internationalen Bestseller „Freakonomics“ ist bekannt: eine Story über das Geschäft mit Crack, Kokain und über Straßengangs, die den Drogenhandel führen wie ein funktionierendes Unternehmen.
Sudhir Venkatesh ist Professor der Soziologie und afroamerikanischen Wissenschaften an der Columbia University in New York.
Das Interview im Wortlaut:
Worin sehen Sie die größten Herausforderungen für Manager in den nächsten drei Jahren?
Die Anpassung an unsere begrenzten zeitlichen Horizonte. Unsere Konzepte gehen davon aus, dass die Zukunft stabil bleibt – das zeitliche Äquivalent zur Normalverteilung. Seit der Finanzkrise sollten wir gelernt haben, dass wir mit unseren Risikoabschätzungen das Ausmaß der Folgen nicht vorhersagen können, noch nicht mal als Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die Antwort der US-Regierung auf Lehman und AIG hat alles verändert. Was Manager von Bandenführern lernen können, ist, der Gegenwart hohe Priorität zukommen zu lassen. Holen Sie alles raus von Ihren Mitarbeitern, in dem Sie sie an Stabilität glauben lassen. Aber tappen Sie niemals in die Falle, es selbst zu glauben.
Was sollten Führungskräfte in Deutschland von der Unternehmenskultur anderer Ländern lernen?
Von den USA können sie lernen, auf den Verlierer zu setzen, der sich wieder aufrappelt. Finden Sie den Mann, der sich nach einem Fehlschlag wieder fängt und stellen Sie ihn auf der Stelle ein. Jeder Narr kann gewinnen. Aber der schlaueste Mann im Raum ist derjenige, der aus der Asche wieder aufersteht.
Über welchen Mainstream-Trend bei Führungskräften werden wir in fünf Jahren lachen?
Faktenbasierte Entscheidungsfindung. Dieser Trend wird getragen von Leuten, die glauben, echte Führung könnte sich aus Daten ableiten, die andere Menschen zusammentragen mussten. Das ist ein Mythos. Effektive Manager kennen das Ergebnis, bevor sie ihre Entscheidungen treffen.
Woher nehmen Sie Inspiration für neue Ideen?
Von den Menschen, die nicht mehr an den Erfolg aus eigener Kraft glauben. Von allen, die akzeptiert haben, dass man sich nicht am eigenen Kragen aus dem Morast ziehen kann. Sondern, dass man immer ein Produkt des gemeinsamen Handelns ist, sei es ein Team, Freunde, die Familie. Das sind die Menschen, die das Spiel verstanden haben. Finden Sie diese Menschen und geben Sie ihnen Anreize erfolgreich zu sein.
Was sind in Ihren Augen die drei Kategorien, welche eine Führungsperson charakterisieren?
Nummer 1: Der Wille, auch durch Furcht zu inspirieren. Nummer 2: Nicht auf das Morgen verlassen, aber trotzdem immer ergebnissoffen denken. Nummer 3: Verstehen, dass die meisten Menschen von ihren Anführern Trost und Hoffnung wollen. Auch wenn es falsche Hoffnungen sind, sind es doch Hoffnungen.
Was sind Fehler, die Sie zu häufig im Personalmanagement sehen?
Nur einen: Nicht schweigen zu können, wenn man zuhören sollte. Wenn ich Führungsarbeit lehren würde, würde ich angehenden Führungskräften folgendes Experiment vorschlagen: Sagen Sie 30 Tage lang nicht mehr als vier, fünf Sätze in einem Meeting. Was passiert? Die Mitarbeiter werden glauben, dass jedes ihrer Wörter wertvoll ist. Und kurz darauf glauben Sie es selbst. Und nach einiger Zeit wird es wirklich wahr. Die besten Gangchefs sagen monatelang kein Wort, bevor sie eine Anordnung erlassen.
Was können wir von Ihnen beim „Manager Meeting Europe“ erwarten?
Ich führe Sie in eine Welt, die Sie niemals betreten werden – und niemals betreten wollen. In der Welt der Straßengangs von Chicago gibt es keine Regierung, die einen Vergleich aushandelt. Es gibt keinen neutralen Dritten. Das ist der wahre „freie Markt“, in dem Anreize das Handeln bestimmen und es eine Riesenherausforderung ist, viele Handlungsstränge gleichzeitig zu kontrollieren. Ich will Sie überzeugen, dass wir daraus etwas lernen können, auch wenn diese Welt illegal und brutal ist. Bleiben Sie dran!