Von Kai Pfundt
Es ist ein bemerkenswerter Vorgang, dass jene, die nach dem
Verfassungsgerichtsurteil zu den Hartz-IV-Sätzen die größten
Erwartungen nach einer deutlichen Erhöhung weckten, nun diejenigen
sind, die am lautesten beklagen, dass die Erwartungen enttäuscht
wurden. Sozialverbände, Gewerkschaften und Oppositionsparteien
überbieten sich darin, Willkür, Menschenverachtung oder Trickserei
bei der Neuberechnung der Leistungen anzuprangern. Ein grundlegendes
Missverständnis: Die obersten Richter hatten der Regierung nicht
aufgetragen, die Geldtransfers zu erhöhen. Sie forderten lediglich
eine transparente und nachvollziehbare Berechnung. Eine Rüge, auch
darauf muss man noch einmal deutlich hinweisen, die nicht an die
amtierende Bundesregierung ging, sondern an SPD und Grüne. Als
Regierungskoalition gestaltete Rot-Grün die Hartz-Reformen so, wie
wir sie im Großen und Ganzen aktuell vorfinden, inklusive der von
ihnen heute als viel zu gering empfundenen Transfergelder. Mehr als
die Grünen, die über ihre Wählerschaft eine Partei der
Besserverdienenden sind, müssen sich die Sozialdemokraten fragen, ob
es klug ist, nur an die Leistungsbezieher zu denken, aber nach den
Leistungserbringern nicht zu fragen. Nach jenen Beziehern kleiner und
mittlerer Einkommen zum Beispiel, die mit ihren Steuerzahlungen das
ganze System mitfinanzieren. Schon heute stellt sich für einen
Geringverdiener mit mehreren Kindern die Frage, warum er die tägliche
Mühe auf sich nimmt, wenn sein von staatlichen Leistungen abhängiger
Nachbar auch nicht wesentlich schlechter dasteht. Das
Lohnabstandsgebot, also die Forderung, dass ein Arbeitnehmer
materiell spürbar höhere Einkünfte haben muss als ein Empfänger
staatlicher Leistungen, zählt zu den Basisfunktionen des
Sozialstaats. Wird das Gebot missachtet, befindet sich der
Sozialstaat in Lebensgefahr, weil zu seinem Missbrauch quasi per
Gesetz aufgefordert würde. Es ist das legitime Interesse der
Steuerzahler, also der überwältigenden Mehrheit in diesem Land, dass
arbeitsfähigen Transferempfängern kein Anreiz geboten wird, länger
als unbedingt nötig von staatlicher Alimentation abhängig zu bleiben.
Im Übrigen: Auch unter den Bedingungen von Hartz IV sind
Sozialstaatskarrieren möglich. Vollends absurd wird die Kritik an den
Hartz-Beschlüssen der Regierung, wenn von einer Sozialpolitik nach
Kassenlage die Rede ist. Gegenfrage: Soll ausgerechnet der größte
Ausgabenposten des Bundeshaushalts völlig unbehelligt bleiben von
woanders vollkommen selbstverständlichen Sparnotwendigkeiten? Mit Fug
und Recht lässt sich weiter die Frage stellen, warum der üppig
gepolsterte deutsche Sozialstaat offenbar nur Unzufriedenheit und
neue Forderungen produziert. Damit sind beispielsweise die
Sozialverbände schnell bei der Hand, ohne schlüssig zu erklären, von
wem die vielen zusätzlichen Milliarden Euro kommen sollen. Jetzt
kommt es darauf an, wie sich die Oppositionsparteien im Bundesrat
verhalten. Aus dem Vorwurf der Trickserei bei den Hartz-Berechnungen
wird auch umgekehrt ein Schuh. SPD, Grüne und Linke können
präsentieren, welche Leistungen sie für unerlässlich halten und wie
sie sich die Finanzierung vorstellen, und sich damit dem Urteil der
Wähler stellen. Dass in dem Fall auch Karlsruhe erneut urteilen muss,
scheint ohnehin klar.
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