Ein Kommentar von Matthias Iken
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass an den Märkten
nicht mehr die Vernunft, sondern nur noch Hysterie regiert, wurde er
gestern geliefert: Da haben die spanischen Wähler den reformbereiten
Konservativen eine absolute Mehrheit verliehen, doch die Reaktion der
Märkte bleibt so panisch wie zuvor: Als hätte in Madrid das Chaos
gesiegt, sprang die Rendite spanischer Anleihen von 6,4 auf 6,6
Prozent. Zugleich versinkt nicht nur Südeuropa im Schuldensumpf,
längst fliehen die Anleger aus französischen, belgischen, ja sogar
österreichischen und niederländischen Staatspapieren. So
beklagenswert die Staatsfinanzen in Europa und die dilettantisch
anmutenden Ad-hoc-Politik auch sein mögen, derlei Kurssprünge sind
rational kaum zu begründen. Vielmehr ist eine Massenpanik der
Investoren zu erkennen. In der Angst, der letzte zu sein, werfen die
Anleger ihre Staatsanleihen blind auf den Markt. Dabei lohnt ein
Blick auf die nackten Zahlen: Das angeblich taumelnde Spanien hat
eine Staatsverschuldung, die beträchtlich niedriger ist als die
Deutschlands oder Großbritanniens. Während hier die Renditen immer
weiter fallen, steigen sie in Spanien auf immer neue Rekordhöhen.
Italien wiederum hat im Vergleich zu Japan nur die Hälfte der
Schulden, aber den siebenfachen Zinssatz. Und das von den
Rating-Agenturen gequälte Frankreich muss sich im Vergleich zu den
USA trotz niedriger Schulden zu einem fast doppelt so hohen Zinssatz
refinanzieren. Das Bittere an der Krise: Die Exzesse an den Märkten
wirken wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung – jeder Staat,
der sieben Prozent Zinsen zahlen muss, geht über kurz oder lang
pleite. Die Angst vor dem Staatsbankrott ist der Wegbereiter des
Staatsbankrotts. Wer angesichts solcher Fakten noch die Effizienz der
Märkte predigt, darf die Existenz des Klapperstorchs oder des
Weihnachtsmanns nicht leugnen. Was aber folgt aus dieser
panikgetriebenen Verzerrung der Anleihemärkte? Fakt ist, dass die
Beruhigungspillen, welche die europäische Politik auf vielen Gipfeln
verteilt hat, ihre Wirkung verfehlt haben. Allen Notkrediten, Hebeln
und Rettungsschirmen zum Trotz hat die Schuldenkrise von Griechenland
längst auf die meisten Euro-Staaten übergegriffen. Gesucht wird nun
die „Bazooka“, die Panzerfaust, um die Märkte zu beeindrucken, um
Vertrauen gegen Angst, Berechenbarkeit gegen Panik zu stellen. Viel
spricht dafür, dass diese letzte Waffe die Europäische Zentralbank
(EZB) ist. Sie könnte die Grenze der Risikoaufschläge definieren, und
diese Grenze dann mit massiven Käufen von Staatsanleihen verteidigen.
Das wäre ein Signal, das Anleger beeindrucken wird – und das besser
funktionieren dürfte als die Euro-Anleihen, die EU-Kommissionschef
José Manuel Barroso nun wieder aus dem Hut zaubert. Erst kürzlich
haben die Schweizer vorgemacht, wie man Märkte beeindruckt: Die
Nationalbank hatte Anfang September einen Euro-Mindestkurs von 1,20
Franken festgelegt. Die Botschaft, mit aller Entschlossenheit diese
Grenze durchzusetzen, wirkte. Und auch die Bundesbank ist 1992 über
ihren Schatten gesprungen und hat den Franc verteidigt. Zuvor hatte
Präsident Francois Mitterrand gefragt: „Ich weiß um die
Unabhängigkeit der deutschen Notenbank, aber was will sie? Will sie
am Ende als Einzige auf einem Ruinenfeld stehen?“ Diese Frage stellt
sich inzwischen der EZB. Allein die Ankündigung unbegrenzter
Anleihenkäufe könnte ausreichen, die panischen Märkte endlich zu
beruhigen. Natürlich ist das nicht ohne Risiko, der oberste deutsche
Wirtschaftsweise Wolfgang Franz sprach jüngst sogar von einer
„Todsünde einer Zentralbank“. Da mag er Recht haben; nur: Inzwischen
hat Europa vermutlich nur noch die Wahl zwischen der Todsünde und dem
Tod der Währungsunion.
Pressekontakt:
HAMBURGER ABENDBLATT
Ressortleiter Meinung
Dr. Christoph Rind
Telefon: +49 40 347 234 57
Fax: +49 40 347 261 10
christoph.rind@abendblatt.de meinung@abendblatt.de
Weitere Informationen unter:
http://