HAMBURGER ABENDBLATT: Inlandspresse, Hamburger Abendblatt zu Chancen und Grenzen des Datenschutzes

Ein Kommentar von Matthias Iken

Manchmal geht Sprache nicht nur in die Ohren, sondern vermag auch
Augen zu öffnen. Man muss nur einige Begriffe auf sich wirken lassen.
Jugendschutz beispielsweise nennt man Bestimmungen, die die Jugend
von den Lastern der Erwachsenen fernhalten sollen, ein Kopfschutz
soll das Haupt vor Schäden behüten. Doch wen oder was schützt
eigentlich der Datenschutz? Die Daten? Natürlich ist das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung ein hohes wie schützenswertes Gut.
Doch mehr und mehr drängte sich in den vergangenen Monaten der
Eindruck auf, dass in Ämtern und Behörden des Guten etwas zu viel
getan wurde. Zumindest gilt der Datenschutz als eine Begründung,
warum Ermittler und Vormunde dramatische, ja tödliche Fehler gemacht
haben. Die mordende Terrorbande Nationalsozialistischer Untergrund
(NSU) konnte vielleicht auch deshalb so lange unentdeckt bleiben,
weil der Datenschutz ihre braune Vorgeschichte verwischte. Jüngst
beklagte der Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm, dass seine
Behörde mögliche Versäumnisse im Rechtsterrorismus nicht vollständig
aufarbeiten könne, weil personenbezogene Akten im Regelfall nach fünf
Jahren zu vernichten seien. Auch in der Hansestadt könnte der
Datenschutz nun die Falschen beschützt haben: Das Jugendamt gab das
kleine Pflegekind Chantal zu Eltern, die drogenabhängig waren, in
eine Familie, in der der Vater zuvor eine Haftstraße verbüßt hatte.
Auch hier war es der Datenschutz, der die Weitergabe dieser
Informationen verhindert hatte. Natürlich ist es ein Leichtes,
persönliches Fehlverhalten auf gesetzliche Bestimmungen abzuwälzen –
und da kommt Ämtern, Ermittlern oder Politikern der Datenschutz ganz
gelegen. Und natürlich ist er nicht verantwortlich für den Tod von
Chantal oder die Mordserie der Nazis. Aber doch muss die Frage
diskutiert werden, ob die gesetzlichen Bestimmungen zu streng gefasst
sind. Es gehört zur Klage fast jedes Ermittlers bei Mordfällen, dass
die Grenzen zwischen Datenschutz und Täterschutz fließend sind.
Höchste Zeit also, die Grenzen auszuloten und gegebenenfalls neu zu
ziehen. Der Satz des SPD-Fraktionschefs Andreas Dressel,
„Kinderschutz geht vor Datenschutz“ mag populistisch klingen. Und
doch ist er wahr. Als Mitglied der Gesetzgebung kann er seinen Worten
Taten folgen lassen. Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann
(CDU) hat gerade vorgemacht, dass die Sorgen von Datenschützern nicht
die Richtlinien der Politik bestimmen müssen: Gestern kündigte die
niedersächsische Polizei an, die umstrittene Facebook-Fahndung wieder
aufzunehmen. In dem sozialen Netzwerk hatten die Ermittler
Zeugenaufrufe online gestellt und damit beachtliche Erfolge erzielt –
bis sich Datenschützer daran stießen. Nun ist es Aufgabe der
Datenschützer, ihre mahnende Stimme zu erheben. Man erinnere sich: Es
ist eine Generation her, da waren die Volkszählung und die
informationelle Selbstbestimmung eine Hauptsorge der Deutschen. 1983
fürchtete halb Deutschland „1984“ – die Verwirklichung der
orwellschen Negativutopie zwischen Rhein und Elbe, den
Überwachungsstaat, der seine Bürger gläsern macht. Dieser Generation
Misstrauen folgte die Generation Leichtsinn. Gerade viele junge
Deutsche gehen heute mit ihren persönlichen Daten geradezu fahrlässig
um. Was der Staat vor 30 Jahren in der Volkszählung niemals zu fragen
gewagt hätte, geben viele heute freiwillig preis – auf eigenen
Internetseiten oder in sozialen Netzwerken wie Facebook. In diesem
Dilemma steckt der Datenschutz – das Informationszeitalter definiert
Ansprüche und Grenzen, Möglichkeiten und Gefahren jeden Tag neu.
Diese Debatte gilt es endlich zu führen.

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