Ein Kommentar von Matthias Iken
Welch Ungleichzeitigkeit der Ereignisse: Die entsetzliche
Zuspitzung der japanischen Multikrise aus Erdbeben, Tsunami und
Kernschmelzen sprengt alle Grenzen. Die Welt zeigt sich nicht nur vom
Desaster betroffen – sie ist es auch. Radioaktive Strahlung und die
Erschütterungen der Wirtschaft wirken international. Auf der anderen
Seite tobt in Deutschland eine sehr nationale Debatte über die
Atomkraft. Man streitet mit Verve über Krümmel, Philipsburg und
Neckarwestheim und verliert die Welt etwas aus dem Blick. Auf den
ersten Blick wirkt der nationale Alleingang beim Einstieg in den
Ausstieg wie ein politisches Schauspiel in Krähwinkel. Mit
Überraschung und Befremden verfolgen viele im Ausland diesen
vermeintlichen deutschen Sonderweg. In Frankreich, Polen, Schweden –
und erst recht in China, das gleich 40 neue Reaktoren hochziehen
will, hält man noch unbeeindruckt an der Nutzung der Krisentechnik
fest. Fukushima lehrt die Gefahren des Atoms, doch will die
Menschheit lernen? Immerhin beginnt Europa, diese Frage zu stellen.
EU-Kommissar Günther Oettinger hat gehandelt, die Energieminister
zusammengetrommelt und will sämtliche Meiler auf den Prüfstand
stellen. Doch leider bleibt Atomsicherheit in Europa eine Frage der
Mitgliedstaaten. Es mutet absurd an, dass die EU-Staaten erst am
vergangenen Wochenende den Einstieg in eine milliardenschwere
Transferunion beschlossen haben und ihre Märkte weiter angleichen
wollen, in der Atompolitik aber auf Souveränität und Kleinstaaterei
pochen. Was hilft das Abschalten von Biblis, wenn 20 Kilometer hinter
der deutschen Grenze die Pannenreaktoren von Cattenom stehen oder das
veraltete Kernkraftwerk Mochovce in der Slowakei weiter betrieben
wird? Allerdings sollten die Deutschen in Brüssel nicht als
Lehrmeister auftreten. Frankreich erzeugt 80 Prozent seines Stroms
aus Kernkraft, in Schweden sind es fast 50 Prozent. Ein Ausstieg ist
keine Sache von Monaten, sondern von Jahren. Und er verheißt nicht
das Paradies – ein Ausstieg ist ein gefährlicher wie steiniger Weg.
Weder darf er zur Entindustrialisierung des alten Kontinentes führen,
noch die Klimaziele torpedieren. Und doch ist jetzt der Zeitpunkt,
einen echten europäischen Marshallplan für neue Energien auszurufen:
Statt 43 Prozent der EU-Mittel in die Landwirtschaft zu versenken,
muss Europa in die Zukunftswirtschaft investieren – in Wind- und
Wasserkraft, in Solarenergie und -thermie, in Energieeinsparung und
-speicherung. So könnte aus der Katastrophe eine Chance für Europa
erwachsen.
Pressekontakt:
HAMBURGER ABENDBLATT
Ressortleiter Meinung
Dr. Christoph Rind
Telefon: +49 40 347 234 57
Fax: +49 40 347 261 10
christoph.rind@abendblatt.de meinung@abendblatt.de