Ein Kommentar von Roman Heflik
Die Debatte darüber, welches Land Nordafrikas Flüchtlinge
aufnehmen soll, sollte mit nüchternen Zahlen anfangen: Seit den
Umbrüchen in Nordafrika sind auf der italienischen Mittelmeerinsel
Lampedusa etwa 26?000 Flüchtlinge gestrandet. Für das winzige Eiland
mit seinen rund 4500 Einwohnern stellt das ein gewaltiges Problem
dar. Doch die bedrückende Enge, die auf Lampedusa herrschen mag,
verzerrt die Dimensionen des Problems. Im vergangenen Jahr musste das
Industrieland Italien gerade mal 8000 Flüchtlinge aufnehmen – die
Zahl der Asylbewerber in Deutschland lag im gleichen Zeitraum bei
41?000. Zudem handelt es sich bei den Flüchtlingen größtenteils um
Tunesier, die Jobs in Europa suchen. Wirtschaftsmigranten aber haben
keinen Anspruch auf Asyl und könnten bald wieder abgeschoben werden.
Die Vermutung liegt nahe, dass europäische, insbesondere italienische
Warnungen vor einem „Dammbruch“ durch den „menschlichen Tsunami“ eher
medialer Neigung zu Superlativen und politisch motivierter Panikmache
geschuldet sind. Die konservative Regierung Berlusconi hat jedenfalls
ein Interesse daran, das Flüchtlingsproblem schnell abzuwälzen. So
verkündete Innenminister Maroni, bei den Boat?people handele es sich
um ein europäisches Problem – und das, bevor die ersten Schiffe in
Italien angekommen waren. Nun hat Italien – wütend darüber, dass die
EU die Angelegenheit als eine italienische ansieht – angekündigt, den
Flüchtlingen Visa auszustellen, mit denen sie 90 Tage lang frei in
Schengen-Staaten wie Deutschland ein- und ausreisen dürfen – eine
Einladung zum Untertauchen. Damit beschädigt das Land die EU gleich
mehrfach. Denn im Dublin-II-Abkommen haben sich die Mitgliedstaaten
darauf geeinigt, dass sich um Flüchtlinge deren Ankunftsländer
kümmern. Zugleich fügt Italien dem Gedanken von Schengen Schaden zu,
also der Idee, dass Grenzen überflüssig werden, wenn Länder in
Rechtsfragen eng zusammenarbeiten. Schlagbäume abzumontieren
erfordert jedoch Vertrauen – Vertrauen, das Italien zugunsten seiner
Innenpolitik gerade verspielt. Dennoch trifft auch die EU eine
Mitschuld. Seit Jahren vertrödelt sie es, eine tragfähige gemeinsame
Asylpolitik zu installieren. Feste Regeln aber, welches Land wann wie
viele Flüchtlinge aufzunehmen hat, sind nötig, damit Europa auch in
Krisen zusammenhält. Schlagbäume sollten in der EU da bleiben, wo sie
hingehören: im Museum.
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