Einige Bundesländer verzeichnen einen
rückläufigen Anteil von Schülern mit Behinderung in den Regelschulen;
es scheint, als ob sich die deutschen Schulen mit der Inklusion
schwertun. „Inklusion bedeutet eben, jeden Einzelnen mitzunehmen und
alle einzubeziehen. Heißt, alle am Prozess der Inklusion beteiligten
Kinder, Eltern, Lehrer vorzubereiten, zu befähigen und professionell
beim Miteinander zu unterstützen“, erläutert Roswitha Hoerder,
Ergotherapeutin im DVE (Deutscher Verband der Ergotherapeuten e. V.)
ihren Standpunkt zum Thema –Inklusion–.
Die Inklusion verlangt den Schulen einiges ab. „Dabei könnte
Inklusion leichter gehen.“, findet die Ergotherapeutin Roswitha
Hoerder, die an einer Ganztagsschule arbeitet. Ihr Arbeitsschwerpunkt
ist in den unteren, vorwiegend in den ersten Klassen, denn der
Übergang in die Schule stellt für alle Erstklässler ein Umgewöhnen,
für einige eine Herausforderung dar. Viele Kinder haben anfangs
ähnliche Schwierigkeiten, müssen lernen, sich im Schulalltag
zurechtzufinden, sich für die Pause oder den Sport umzuziehen.
Anschluss und Freunde zu finden, sich sozial zu integrieren. Aber
auch das Geschehen in der Mensa – immer mehr Schulen sind
Ganztagesschulen – ist für einige Kinder eine Hürde. Sie geraten
unter Druck, vor allem die Kinder, die körperlich eingeschränkt sind
oder diagnostizierte oder bis dahin nicht erkannte
Entwicklungsverzögerungen und andere Störungen haben. Das sind die
meisten.
Schritt eins der Inklusion: Kinder mit Schwierigkeiten
identifizieren
Ergotherapeuten wie Roswitha Hoerder sitzen vom ersten Schultag an
mit in den Klassen. Sie beobachten zunächst einmal sehr genau; das
ist ein typisches ergotherapeutisches Analysemittel, das äußerst
aussagkräftig ist – Verhalten ist im Vergleich zu Befragungen völlig
ungefiltert. In ihren Betrachtungen berücksichtigt die
Ergotherapeutin, was einzelne Tätigkeiten und Handlungsabläufe den
Kindern in der Schule abverlangen. Also wie sie innerhalb der Klasse,
im Umgang mit Lehrern und den Mitschülern oder Materialien
zurechtkommen, wie sie selbst strukturiert sind und sich im System
Schule zurechtfinden. Dabei stützt sie sich auf ergotherapeutische
Modelle wie das sogenannte Person-Environment-Occupation Model (PEO)
oder das Canadian Model of Occupational Performance & Engagement
(CMOP-E), ein kanadisches Modell, das Aspekte wie die Persönlichkeit
und den Charakter, kognitive und körperliche Fähigkeiten aber auch
den gesundheitlichen oder kulturellen Hintergrund des jeweiligen
Kindes beleuchtet. Denn in all diesen Faktoren finden sich die Gründe
für die Schwierigkeiten, die von außen sichtbar sind.
Ergotherapeutischer Blick auf vermeintlich Banales
Oft sind es die vermeintlich banalen Dinge des Schulalltags, die
übersehen und deren Auswirkungen meist unterschätzt werden. Klappt
das Anziehen für die Pause nicht, kommt das Kind verspätet auf den
Pausenhof. Dann sind die anderen Kinder schon in Gruppen, im Spielen.
„Das ist eine Situation, in der das Kind isoliert ist, also keine
Inklusion erlebt, und eine schlechte Pause hat. Wie geht das Kind
danach in den Unterricht? Wie kann es folgen, wenn es sich in der
Pause nicht erholt hat?“, bebildert die Ergotherapeutin Hoerder,
weshalb sie ihren Blick auf sämtliche Handlungen im Schulalltag
richtet. Ähnliche Situationen können sich beim Mittagessen
entwickeln, das in einem festgelegten Zeitfenster stattfindet.
Verschüttet das Kind täglich etwas, lässt es sein Tablett fallen oder
hat es beim Essen Schwierigkeiten, weil es das Besteck nicht
handhaben kann oder aus körperlichen Gründen Probleme bei der
Nahrungsaufnahme hat, dann sorgt das für Stress, was wiederum die
anderen Bereiche beeinflusst. Denn unter Stress kann sich kein Kind
konzentrieren, Neues aufnehmen, sich am Unterricht beteiligen. Je
nach Charakter, Herkunft, Fähigkeiten und so weiter, machen Kinder,
die sich derart unwohl oder unter Druck fühlen, auf sich aufmerksam,
indem sie stören oder ihre Sitznachbarn ablenken. Und beeinträchtigen
so den Rest der Klasse. Daher kümmert sich die Ergotherapeutin um
alles, was ihr auffällt. Häufig reichen einfache Veränderungen wie
dem Kind einen anderen Platz zuweisen, der nicht mitten im Getümmel
ist, oder für die Mensa Besteck anpassen oder eine rutschfeste
Unterlage für das Tablett besorgen. Hat das Kind hingegen Probleme
beim Anziehen, vermitteln Ergotherapeuten Strategien, die ihm helfen,
selbst besser zurecht zu kommen, Alternativen zu finden oder wie es
Hilfe von anderen erhält.
Inklusion bedeutet für Ergotherapeuten auch Beziehungsarbeit zu
Eltern und Lehrern
Für die Ergotherapeutin Hoerder ist es selbstverständlich, das
gesamte System zu betrachten und einzubinden. „Ich bin bereits beim
ersten Informationsabend für Eltern dabei. Den Eltern der neuen
Erstklässler erkläre ich meine Funktion und, noch wichtiger: Ich
kläre auf und nehme die Furcht“, betont sie, denn Vorurteile und das
Nicht-Wissen, sowohl bei Eltern als auch bei Lehrern, sind oft der
Grund, warum Inklusion so schwerfällt. Dem treten Ergotherapeuten mit
ihrem Background, unter anderem aus medizinischem Wissen, entgegen.
Roswitha Hoerder weiß aus ihrer langjährigen Berufserfahrung, wie
hilfreich es ist, die Auswirkungen einer Erkrankung oder einer
Störung zu kennen. Wenn die Kinder zuhause berichten, was bestimmte
Klassenkameraden tun oder wie sie sich verhalten, wissen die Eltern,
warum das so ist und können ihr von der Ergotherapeutin erworbenes
Wissen an das eigene Kind weitergeben. „Wenn Kindern und Eltern klar
ist, dass beispielsweise ein Mitschüler mit Autismus nicht mag, wenn
andere Kinder sich an ihn heranpirschen oder ihn berühren, gibt es
weniger Irritationen im Miteinander und letzten Endes läuft es
dadurch auch besser im Unterricht“, berichtet Hoerder. Verständnis,
Empathie und der Wille, Andere und Andersartigkeit zu akzeptieren,
sind grundlegend für Inklusion. Und das vermitteln Ergotherapeuten
eben auch. Und tragen so dazu bei, dass das, was an Schulen an erster
Stelle steht – das Lernen – für alle besser klappt.
Informationsmaterial gibt es bei den Ergotherapeuten des DVE
(Deutscher Verband der Ergotherapeuten e.V.); Ergotherapeuten in
Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes im Navigationspunkt
Service und Ergotherapeutische Praxen, Suche.
Pressekontakt:
Angelika Reinecke,
Referentin für Öffentlichkeitsarbeit des DVE e.V.
Telefon: 033335 – 303033,
E-Mail: a.reinecke@dve.info
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