Interview mit Rechtsanwalt Helmut Kirchhof, Anwalt in Berlin: „Pflichtteil – Rechtzeitige Geltendmachung ist entscheidend“

Interview mit Rechtsanwalt Helmut Kirchhof, Anwalt in Berlin: „Pflichtteil – Rechtzeitige Geltendmachung ist entscheidend“
Pflichteilsanspruch ist ein Anspruch auf Geld
 

Redaktion: Herr Kirchhof, viele Menschen wissen gar nicht genau, was ihnen im Erbfall zusteht. Was ist der Pflichtteil überhaupt?
RA Kirchhof: Der Pflichtteil ist ein gesetzlich garantierter Mindestanteil am Nachlass, der nahen Angehörigen zusteht, selbst wenn sie in einem Testament enterbt wurden. Dazu zählen insbesondere Kinder, Ehegatten und – unter bestimmten Voraussetzungen – auch Eltern des Erblassers. Der Pflichtteil besteht immer in einer Geldforderung gegen die Erben – also nicht etwa in einem Anteil am Erbe selbst.
Redaktion: In der Praxis entstehen oft Konflikte. Was sind die häufigsten Streitpunkte?
RA Kirchhof: Ganz klar: Die Auskunft. Der Pflichtteilsberechtigte hat keinen Einblick in das Testament und keinen direkten Zugriff auf das Vermögen des Erblassers. Deshalb hat er einen gesetzlichen Anspruch auf Auskunft und Wertermittlung. Genau hier sperren sich viele Erben – oft mit dem Ziel, den Pflichtteil zu reduzieren oder gar zu umgehen. Als Anwalt sehe ich regelmäßig Fälle, in denen Miterben Auskünfte nur zögerlich oder gar nicht erteilen.
Redaktion: Welche Fristen gelten bei der Geltendmachung eines Pflichtteils?
RA Kirchhof: Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre, beginnend mit dem Schluss des Jahres, in dem der Pflichtteilsberechtigte vom Erbfall und seiner Enterbung Kenntnis erlangt hat. In der Praxis bedeutet das: Wenn Sie 2025 erfahren, dass Sie enterbt wurden, läuft die Verjährung ab Ende 2028. Allerdings gibt es auch längere Fristen von bis zu 30 Jahren in Sonderfällen, etwa wenn keine Kenntnis vom Erbfall vorliegt. Daher ist eine frühzeitige anwaltliche Prüfung entscheidend.
Redaktion: Was passiert, wenn mehrere Erben vorhanden sind – wie wirkt sich das auf den Pflichtteilsanspruch aus?
RA Kirchhof: Bei einer Erbengemeinschaft richtet sich der Pflichtteilsanspruch gegen alle Erben gemeinschaftlich. Das macht die Sache komplexer. Die Erben haften gesamtschuldnerisch, das heißt, der Pflichtteilsberechtigte kann sich einen der Erben aussuchen und diesen in voller Höhe in Anspruch nehmen – dieser muss sich dann intern mit den anderen auseinandersetzen. Auch deshalb ist es wichtig, die richtige Strategie zu wählen und professionell aufzutreten.
Redaktion: Wie sollten Pflichtteilsberechtigte idealerweise vorgehen?
RA Kirchhof: Zuerst ist es wichtig, die Erben schriftlich zur Auskunft aufzufordern – über den Bestand des Nachlasses, Schenkungen in den letzten zehn Jahren und zur Vorlage eines Wertermittlungsgutachtens, sofern Immobilien vorhanden sind. Leisten die Erben dem nicht Folge, kann ein Anwalt diese Auskunft rechtlich durchsetzen. Ich empfehle dringend, bereits in dieser Phase einen im Erbrecht erfahrenen Anwalt einzuschalten. Wer zu lange wartet oder formale Fehler macht, riskiert den Verlust seines Anspruchs durch Verjährung oder unzureichende Durchsetzung.
Redaktion: Und wie verhalten sich die Gerichte bei verweigerter Auskunft?
RA Kirchhof: Gerichte sind bei Auskunftsansprüchen erfahrungsgemäß konsequent. Der Pflichtteilsberechtigte hat ein Recht auf Transparenz. Sobald die Auskunft nicht freiwillig erfolgt, kann sie im Wege der Stufenklage eingefordert werden. In der ersten Stufe wird Auskunft verlangt, in der zweiten erfolgt die Bezifferung, in der dritten die Zahlung. Als Anwalt begleite ich meine Mandanten oft durch diese drei Phasen.
Redaktion: Welche Rolle spielen Schenkungen des Erblassers zu Lebzeiten?
RA Kirchhof: Eine große. Schenkungen innerhalb der letzten zehn Jahre vor dem Tod des Erblassers an Dritte, insbesondere an Miterben, können bei der Berechnung des Pflichtteils berücksichtigt werden. Das nennt man Pflichtteilsergänzungsanspruch. Je näher die Schenkung am Todestag liegt, desto höher ist der anzurechnende Wert. Auch hier ist anwaltliche Unterstützung zentral – viele Berechtigte wissen gar nicht, dass ihnen diese Ansprüche zustehen.
Redaktion: Was ist mit Immobilien im Nachlass? Wie wird deren Wert bestimmt?
RA Kirchhof: Der Verkehrswert einer Immobilie muss in der Regel durch ein professionelles Gutachten ermittelt werden. Wer hier auf Schätzwerte oder veraltete Zahlen setzt, kann sich benachteiligen. Gerade bei hohem Immobilienanteil im Nachlass lohnt sich ein exaktes Vorgehen – notfalls durch einen gerichtlich bestellten Gutachter. Ich rate meinen Mandanten auch hier zur Klarheit und Sorgfalt.
Redaktion: Haben Sie ein Beispiel aus der Praxis?
RA Kirchhof: Ein Mandant von mir, enterbter Sohn eines Berliner Hausbesitzers, hatte keinerlei Einblick in das Vermögen des Vaters. Die Miterbin, eine neue Ehefrau des Verstorbenen, verweigerte jede Auskunft. Wir haben erst im Klageverfahren erfahren, dass der Vater mehrere Immobilien zu Lebzeiten verschenkt hatte. Dank konsequenter anwaltlicher Durchsetzung konnten wir über den Pflichtteilsergänzungsanspruch einen hohen fünfstelligen Betrag realisieren – andernfalls wäre der Anspruch verfallen.
Redaktion: Was ist Ihr wichtigster Rat an Pflichtteilsberechtigte?
RA Kirchhof: Zögern Sie nicht. Zeit spielt eine große Rolle. Sobald Sie vom Erbfall und Ihrer Enterbung wissen, sollten Sie einen spezialisierten Anwalt aufsuchen. Nur mit juristischem Fachwissen und Durchsetzungskraft kann man Pflichtteilsansprüche wirklich realisieren. Emotional belastete Erbauseinandersetzungen benötigen einen kühlen Kopf – den bietet ein Rechtsanwalt.
Redaktion: Herr Kirchhof, vielen Dank für dieses aufschlussreiche Gespräch.
RA Kirchhof: Gern geschehen – und allen Betroffenen rate ich: Warten Sie nicht ab. Lassen Sie sich frühzeitig beraten!