Der in Köln lebende Schriftsteller und Orientalist
hält amerikanische Luftschläge und Waffenlieferungen an die Kurden
für unzureichend. Damit könne womöglich die Offensive der Terrormiliz
„Islamischer Staat“ aufgehalten werden. „Eine Millionenstadt wie
Mossul wird man damit nicht befreien“, schreibt er in einem
Gastbeitrag für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ (Freitagsausgabe).
Kermani betont in seinem Beitrag: „Weder die künftige Regierung im
Irak noch die Weltgemeinschaft dürfen sich damit abfinden, dass eine
Terrorgruppe von hochgeschätzt zwanzigtausend Mann ein Gebiet von der
Größe der Bundesrepublik beherrscht, es ethnisch und religiös brutal
säubert, auch die eigene, verbliebene Bevölkerung tyrannisiert und
demnächst, mit größeren Erfolgsaussichten als in Kurdistan, dauerhaft
in die sunnitischen Gebiete im Norden des Libanon eindringt und mit
Tripoli eine weitere Großstadt einnimmt. Dann würde von den Grenzen
Irans bis an die Küste des Mittelmeers eine Polpotversion des Islams
herrschen.“ Kermani schreibt weiter: „Dass die Weltgemeinschaft –
nein, nicht nur die Amerikaner -, den drohenden Genozid an Christen,
Jesiden und anderen religiösen Minderheiten verhindern muss, scheint
sich in diesen Tagen als ein zivilisatorischer Konsens
herauszukristallisieren. Sowohl die amerikanische wie auch die
iranische Regierung liefern Waffen an die Kurden, die sich gegen den
„Islamischen Staat“ stemmen, und die Erzfeinde unterstützen auch
gemeinsam den designierten Premierminister Haider al-Abadi bei seinem
Versuch, in Bagdad endlich eine überkonfessionelle Regierung zu
bilden. Die europäische Außenpolitik hat sich überraschend
umstandslos aus den Fesseln ihrer notorischen Uneinigkeit befreit,
indem sie sich selbst für bedeutungslos erklärte und den nationalen
Regierungen freie Hand gab, einzugreifen oder nicht oder nur ein
bisschen.“ Für den 46-Jährigen Orientalisten gibt es keinen Zweifel,
dass sich die Weltgemeinschaft der Bedrohung durch den „Islamischen
Staat“ entgegenstellen muss:“Dass zur Zeit die nationalstaatliche
Ordnung des Nahen Osten gesprengt wird, könnte, ja müsste Europa
vielleicht noch hinnehmen – ist sie doch so willkürlich im 20.
Jahrhundert entstanden, dass eine Neuordnung nicht zwingend
schlechter sein muss. Nicht hinnehmbar ist, für kein mitfühlendes
Herz, dass eine einzelne Terrorgruppe wie der „Islamische Staat“ das
fragile und doch so wertvolle, zivilisatorisch so reiche Gebilde
unterschiedlichster Ethnien, Religionen und Sprachen vernichtet, das
sich am östlichen Mittelmeer über viele tausend Jahre relativ
kontinuierlich herausgebildet hat. Der Kampf gegen einen solchen,
sich islamisch begründenden Extremismus darf nicht von Amerika allein
geführt werden oder von christlichen Ländern, die sich um ihre
Glaubensgeschwister zu Recht sorgen. Dieser Kampf muss ein Kampf
gerade der islamischen Staaten, aber auch ihrer Theologen, ihrer
Intellektuellen, der Muslime insgesamt sein. Ihre eigene Tradition
ist es, die von den Dschihadisten zugunsten einer imaginierten,
historisch, dogmatisch und vor allem auch menschlich völlig
unhaltbaren Urgeschichte für obsolet erklärt wird.“ Kermani fürchtet,
dass der Orient als Folge des Vormarsches der Terrorgruppe
zivilisatorisch ausdörren könnte: „Speziell die arabische Welt hat
schon den Exodus ihrer Juden nach der Gründung des Staates Israels
kulturell nie kompensieren können. Würden nun auch die übrigen
Minderheiten, allen voran die Christen verschwinden oder ihre
Existenz sich auf einzelnen Enklaven beschränken, wäre der Orient
zivilisatorisch so ausgedörrt wie die Wüste, aus der seine Propheten
kamen. Was jetzt zu geschehen droht oder bereits geschieht, in diesen
Tagen des Sommers 2014, kann in seinen Dimensionen und Auswirkungen
für den Nahen Osten nur mit den Dimensionen und Auswirkungen
verglichen werden, die der Erste Weltkrieg für Europa hatte – der
noch größere, noch unheilvollere Folgekrieg nicht ausgeschlossen.
Auch für Europa, das sich mit noch so hochgerüsteten Grenzregimen von
seinem unmittelbaren Nachbarn nicht wird abschotten können, wären die
Folgen spürbar, für jeden einzelnen Bürger, seinen Wohlstand, seine
Sicherheit, seine Toleranz, für das Zusammenleben der
unterschiedlichen Völker und Kulturen in den europäischen Städten.“
Der Schriftsteller zieht am Ende seiner Gastbeitrages das Fazit:
„Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem selbst den verbohrtesten
Regierungen dämmern müsste, dass auch ihre Interessen von dem
Ungeheuer bedroht sind, das im Great Game des frühen
einundzwanzigsten Jahrhunderts entstand. Das Spiel muss aufhören:
Stoppt den „Islamischen Staat“! Der Schriftsteller und Orientalist
Navid Kermani, 46, lebt in Köln. Im Frühjahr erschien sein Roman
„Große Liebe“. Am 19. September erhält er in Koblenz den
Josef-Breitbach-Preis.
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