
Noch vor Sonnenaufgang – meist an einem Mittwochmorgen – ist es soweit. Wenn der Muezzin zum Morgengebet ruft, sind sie schon tot. Die Gefängniswärter kommen in der Dunkelheit, legen den Verurteilten die Augenbinden an, führen sie zum Galgen. Der Strick wird enger, das Leben endet. Draußen vor den Gefängnistoren warten oft Mütter, Väter, Geschwister, Angehörige – bis sie mit dem ersten Ruf des Morgengebets zusammenbrechen. Wieder hat ein Mensch in Iran nach einem Urteil der Islamischen Republik gemäß dem islamischen Strafgesetzbuch des Iran sein Recht auf Leben verloren.
Allein seit Anfang dieses Jahres bis Ende September wurden nach Angaben iranischer Menschenrechtsorganisationen mindestens 1042 Menschen hingerichtet – 171 davon im Monat September. Die Todesstrafe ist im Iran längst ein Mittel zur Einschüchterung und Machtsicherung.
In keinem anderen Land nach China werden so viele Menschen hingerichtet wie im Iran. Die Hinrichtungen folgen dabei einem klaren sozialen und politischen Muster: Besonders betroffen sind Kurd*innen, Belutsch*innen, Angehörige religiöser Minderheiten und Menschen aus armen Verhältnissen. Der Galgen dient nicht nur der politischen Repression – er diszipliniert auch gesellschaftliche Ränder. Das zeigt sich schon in den Verfahren: willkürliche Geständnisse, Folter, fehlender Zugang zu Anwält*innen, geheime Prozesse.
Doch gegen diese staatlich organisierte Tötungsmaschinerie hat sich in den letzten Jahren eine neue Form des Widerstands gebildet. Gefangene, Familien von Hingerichteten, Mütter der Opfer und Aktivist*innen der Zivilgesellschaft haben eine Bewegung geschaffen, die den Wert des Lebens über Grenzen von Glauben, Ethnie oder politischer Zugehörigkeit hinaus verteidigt.
Seit Beginn der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung ist der Protest gegen die Todesstrafe Teil eines umfassenderen Kampfes um Freiheit und Würde geworden. Besonders eindrücklich zeigt sich das in der Gefängniskampagne „Dienstage gegen die Todesstrafe“: Sie begann Anfang 2024 mit einem Hungerstreik von zehn politischen Gefangenen im Qezel-Hesar-Gefängnis und hat sich seither auf Haftanstalten im ganzen Land ausgeweitet. Bisher haben sich politische Gefangene in 52 Gefängnissen im ganzen Iran dem Hungerstreik angeschlossen. Immer dienstags – das ist oft der letzte Tag für diejenigen, die hingerichtet werden – treten sie in den Hungerstreik. Ihr Ziel: Bewusstsein schaffen, Solidarität mobilisieren, Staatsmord stoppen – oder zumindest verzögern.
Diese Kampagne hat gezeigt, dass öffentlicher Druck wirkt. In mehreren Fällen wurden Hinrichtungen verschoben oder Urteile überprüft. Auch die iranische Diaspora, die regelmäßig Mahnwachen und Protestaktionen in europäischen Städten organisiert, spielt eine zentrale Rolle dabei, das Thema international sichtbar zu machen.
In einem System, das seine Macht auf „Vergeltung“ und „göttliche Strafe“ gründet, bleibt die Abschaffung der Todesstrafe eine rote Linie. Jene Stimmen, die hoffen, das System könne durch kleine juristische Reformen humaner werden, übersehen, dass der Galgen im Iran nicht nur Teil des Rechtswesens, sondern Fundament der politischen Kontrolle ist. Die Abschaffung der Todesstrafe ist also durch geringfügige Änderungen nicht möglich. Ansätze, die die Islamische Republik „aufweichen“ wollen, ohne repressive Strukturen – wie die Todesstrafe – zu beseitigen, können daher keine Alternative sein.
Die Todesstrafe im Iran ist kein rein nationales Problem. Während mehr als zwei Drittel der Staaten weltweit sie abgeschafft oder faktisch ausgesetzt haben, steht die Islamische Republik an der Spitze der Exekutionsstatistiken. Dennoch bleiben die Reaktionen westlicher Regierungen meist verhalten – nicht aus Unwissenheit, sondern aus geopolitischem Kalkül. Der Internationale Tag gegen die Todesstrafe erinnert deshalb nicht nur an die Opfer des iranischen Galgens, sondern auch an die internationale Verantwortung: Schweigen schützt die Täter.
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