Der VW-Konzern ist in die schwerste Krise seit 
Jahrzehnten gerutscht – selbstverschuldet. Der Abgas-Skandal hat 
Vertrauen zerstört und wird tiefe Spuren in der Bilanz hinterlassen. 
Nicht nur in den USA drohen Klagen. Auch in Frankreich, Spanien, 
Italien und selbst in Australien werden Forderungen nach 
Schadenersatz und Entschädigungen laut. „VW kann die jahrelang 
angestrebte Weltmarktführerschaft auf lange Sicht abhaken“, betont 
der Autoexperte Prof. Dr. Ferdinand Dudenhöffer im Gespräch mit 
unserer Zeitung. Er übt zudem scharfe Kritik an der Konzernstruktur 
und fordert schnelles Handeln der Wolfsburger, um verloren gegangenes
Vertrauen zurückzugewinnen.
   Der neue VW-Chef Matthias Müller hat den rund 600 000 
Beschäftigten des Konzerns eine umfassende Aufklärung des 
Abgas-Skandals zugesichert und betont, dass das Unternehmen vor einer
nie dagewesenen Herausforderung stehe. Wie kann der Konzern das 
verloren gegangene Vertrauen zurückgewinnen?
   Prof. Dr. Ferdinand Dudenhöffer:  VW muss den Kunden schnell 
saubere Lösungen anbieten. Meiner Einschätzung nach wäre die 
sauberste Lösung, wenn die betroffenen Fahrzeuge mit 
SCR-Katalysatoren nachgerüstet werden, die hinsichtlich der 
Schadstoffemissionen über jeden Zweifel erhaben sind und auch die 
Euro-6-Norm erfüllen können. Diese Lösung ist angesichts der bis zu 
elf Millionen betroffenen Fahrzeuge zwar teuer, aber ich glaube, es 
wird sich weltweit auszahlen. In einem zweiten Schritt muss überlegt 
werden, wie man den Konzern vom Kopf auf die Füße stellt. VW hat in 
den vergangenen 20 Jahren immer wieder für Skandale gesorgt – vom 
Fall Hartz bis zum Übernahmekampf mit Porsche. Der neue Konzernchef 
Matthias Müller hat zwar gesagt, er benötigt ein stringentes 
Compliance-System. Gleichzeitig sagte  der derzeitige 
Aufsichtsratschef Berthold Huber, dass der nächste Schritt am 9. 
November auf einer außerordentlichen Hauptversammlung die Wahl von 
Hans Dieter Pötsch zum neuen Aufsichtsratschef sei. Wie das 
zusammenpasst, verstehe ich überhaupt nicht mehr. Pötsch steht als 
Finanzvorstand für das alte System. Und Pötsch kann große Probleme 
bekommen. Denn VW hat keine Ad-hoc-Meldungen herausgegeben, obwohl 
die Vorwürfe und sogar das Original-Schreiben der US-Behörden schon 
längst im Internet aufgetaucht waren. Das könnte Schäden geben, die 
in Richtung 30 Milliarden Euro gehen, wenn Schadenersatzansprüche von
Aktionärsschützern geltend gemacht werden. Warum man in so einer 
Situation Pötsch zum neuen Aufsichtsratschef küren will, verstehe ich
nicht. Meiner Ansicht nach braucht VW eine andere Gesellschaftsform.
   Verantwortliche bei VW hatten laut eines ersten Prüfberichts schon
mehrere Jahre Kenntnis vom Einsatz der Software in Dieselautos. Haben
bei VW alle Schutzmechanismen versagt?
   Dudenhöffer: Die Schutzmechanismen hatten auch schon beim 
Hartz-Skandal versagt. Damals hat man gesagt, man wolle alles ändern,
so etwas werde sich nie wiederholen. Nun gibt es den riesigen 
Abgas-Skandal. Der Hauptgrund für diese Vorfälle liegt in der 
Struktur des Konzerns begründet. VW ist ein Konzern, der um den 
Kirchturm Wolfsburg kreist,  aber weltweit als globaler Autobauer in 
den Märkten agieren soll. Dieser Kirchturm Wolfsburg hat viele 
Merkmale, die weltweit einmalig sind. Dazu gehören das VW-Gesetz 
ebenso wie die Unternehmensstruktur. Das Land Niedersachen hat einen 
20-Prozent-Anteil und damit über das VW-Gesetz enormen Einfluss. 
Zweitens gibt es eine besondere Form der Mitbestimmung. Da gibt es 
einen Herrn Osterloh, der der eigentliche heimliche Chef bei VW ist. 
Der Betriebsratschef dominiert den Aufsichtsrat, weil die 
Arbeitnehmerseite 50 Prozent der Sitze im Aufsichtsrat hat, hinzu 
kommen die beiden Sitze des Landes. Diese Koalition richtet das 
Unternehmen rund um den Kirchturm Wolfsburg aus. Ich mache mal einen 
Vergleich:  Können Sie sich vorstellen, dass die Deutsche Bank ein 
Unternehmen ist, bei dem die Stadt Frankfurt  20 Prozent der Aktien 
besitzt und es ein Deutsche-Bank-Gesetz gibt, das so gestaltet ist, 
dass Frankfurt jede größere Konzernstrategie m Aufsichtsrat  mit 
einem Veto-Recht blockieren kann? Das VW-Gesetz ist sicherlich gut 
gemeint, aber ich glaube, es hemmt das Unternehmen, sich so 
auszurichten, dass es Strukturen bildet, die wettbewerbsfähig sind. 
Die Kernmarke VW hat schon immer ein Problem mit seiner Rentabilität 
gehabt. Das liegt daran, dass der Konzern rund um VW und um Wolfsburg
zugeschnitten ist – und daran nicht gerüttelt werden darf. VW ist am 
Boden gefesselt wie Gulliver.
   Auf VW kommen enorme Kosten durch Strafen, Rückrufaktionen, 
Entschädigungen und Schadenersatz in zweistelliger Milliardenhöhe zu.
Das wird den Konzern jahrelang extrem belasten. Und Investitionen 
verhindern, die angesichts der wachsenden Konkurrenz notwendig wären.
Wird der Skandal VW langfristig abhängen oder ist er der Todesstoß 
für das Wolfsburger Imperium in seiner heutigen Form?
   Dudenhöffer: Die Situation für VW ist sehr gefährlich. Aber wir 
wissen heute nicht, wie hoch die Belastungen tatsächlich sind. Wir 
wissen nicht, was die Amerikaner als Strafe aussprechen. Wir wissen 
nicht, wie VW mit den Rückrufen umgeht. Wir wissen nicht genau, wie 
die Aktionärsschützer mit ihren Klagen durchkommen. Im schlimmsten 
Fall kann der VW-Konzern ganz gewaltig wackeln. Deshalb ist es jetzt 
notwendig, dass man die finanziellen Folgen möglichst begrenzen kann 
und gleichzeitig neue Strukturen dafür sorgen, dass derartige 
Skandale in der Zukunft ausgeschlossen sind. Zudem sollte der Konzern
neu ausgerichtet werden. Weniger Kirchturm Wolfsburg wäre mehr. Dann 
hätte VW Chancen, bald wieder gut dazustehen. Zwar kann VW die 
jahrelang angestrebte Weltmarktführerschaft auf lange Sicht abhaken, 
doch man sollte diese Marktführerschaft nicht so hoch hängen.
   Rechnen Sie damit, dass noch mehr Abgas-Betrügereien der Branche 
als Licht kommen?
   Dudenhöffer: Nach meiner Einschätzung müsste das Risiko gering 
sein. Das Problem ging von den USA aus. Dort gibt es schon lange 
strengere Grenzwerte für Dieselfahrzeuge als in Europa. VW hat im 
Gegensatz zur Konkurrenz auf den Einbau von SCR-Katalysatoren 
verzichtet. Deshalb glaube ich nicht, dass noch andere Hersteller die
betrügerische Software eingebaut haben.
   Nicht nur im Konzern, sondern auch in der Politik hat es Warnungen
und Hinweise gegeben. So hat die EU-Kommission  schon 2007 eine 
Verordnung erlassen, die Betrugssoftware wie jene, die VW nun nutzte,
ausdrücklich verbietet. Doch die Verordnung wurde in Deutschland 
nicht umgesetzt. Könnte das auch für die verantwortlichen Politiker 
unangenehm werden?
   Dudenhöffer: Die Politiker und Behörden sollten daraus lernen, 
anders agieren und nicht die Bundeskanzlerin  nach Brüssel schicken, 
wo viele Kompromisse gemacht wurden, die letztlich der Autoindustrie 
schaden. Die Lobby der Autoindustrie um Matthias Wissmann agiert 
alles andere als optimal. Man versucht das maximal Mögliche etwa 
gegen den Umweltschutz durchzudrücken. Doch wenn es einen Skandal 
gibt, taucht diese Lobby ab, Wissmann versteckt sich, statt in die 
Offensive zu gehen. Aber auch die Politiker müssen eigenständiger, 
selbstständiger werden und nicht mehr die Handlanger der Industrie.
   Das heißt also, die enge Verflechtung von Autoindustrie und 
Politik sollte endlich entflochten werden?
   Dudenhöffer: Eigentlich gibt es keine Verflechtung, sondern nur 
Politiker, die schwach sind. Die meinen, wenn sie nett zur Industrie 
sind, dann helfen sie ihren Wählern.
   Deutschland galt bisher als Klimaschutz-Vorreiter, als 
Energiewendeland. Nun stehen die US-Behörden als Saubermänner da. Hat
VW also dem ganzen Standort Deutschland geschadet?
   Dudenhöffer: Deutschland behauptet immer gern, ein Vorreiter oder 
gar ein Weltmeister des Umweltschutzes zu sein. Das stimmt aber in 
vielen Fällen nicht. In Deutschland hat man immer geduldet, dass der 
Diesel die Umwelt stärker belastet als der Benzinmotor und 
subventioniert aus unerfindlichen Gründen bis heute den Diesel. In 
den USA gab es von Anfang an die gleichen Emissions-Anforderungen an 
Benzin- und Dieselmotoren. 2010 gab es eine Beschwerde der 
EU-Kommission, weil in vielen deutschen Städten die 
Stickoxid-Belastungen immer wieder überschritten werden. Doch die 
Politik hat nicht reagiert. Die Politiker erzählen zwar gerne, man 
sei führend beim Umweltschutz. Aber wenn man genauer hinschaut, wird 
klar, dass Deutschland nicht das umweltfreundlichste Land ist.
Wie sieht es bei der E-Mobilität aus?
   Dudenhöffer: Auch dieses Thema wird oft links liegen gelassen von 
der Politik. Die Kanzlerin hat 2008 gesagt, sie wolle dafür kämpfen, 
dass 2020 eine Million E-Autos in Deutschland auf den Straßen fahren.
Vom Kampf habe ich bisher nicht viel gesehen. Stattdessen hat die 
Kanzlerin 2013 dafür gekämpft, dass die strengeren 
Kohlendioxid-Standards in der EU von 2020 auf 2023 verschoben wurden.
Anders ausgedrückt: Es gibt keinen Umweltschutzweltmeister. Die 
Deutschen bilden sich aber oft genug ein, diesen Titel zu tragen.
Das Interview führte
Werner Kolbe
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Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
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