Landeszeitung Lüneburg: „Angst löst nur das Nebulöse aus“ – Interview mit Prof. Dr. Ulrich Wagner zum Thema Flüchtlinge

Mit der Zahl der ankommenden Flüchtlinge wächst
auch die Aggression: Populisten demonstrieren, Rechtsextreme verüben
Brandanschläge und Attentate. Der Marburger Sozialpsychologe Prof.
Dr. Ulrich Wagner warnt die Politiker davor, Scheinlösungen wie die
Abriegelung der Grenze anzubieten. „Stattdessen ist mehr
Professionalität gefragt, um den alltäglichen Umgang mit Flüchtlingen
in normale Bahnen zu lenken. Dazu müssen die Vorteile der Zuwanderung
herausgearbeitet werden.“

Wurde in einem Jahr Pegida die Drachensaat gesät, die am
Wochenende mit dem Attentat auf Kölns OB-Kandidatin Reker aufging?

Prof. Dr. Ulrich Wagner: Viele Bürger, die von der Einwanderung
verunsichert sind, erhoffen sich von der Pegida Antworten – übersehen
dabei, dass diese nur scheinbare Antworten liefert. Der Zuspruch zu
Pegida war ja bereits stark zurückgegangen, doch seit dem Sommer,
seit der massiven Zuwanderung von Flüchtlingen, haben die
Vereinfacher wieder Konjunktur. Zugleich werden die Positionen der
Organisatoren und Redner deutlich extremer – wie etwa bei der
verheerenden Rede von Akif Pirinçci zu sehen war. Und das ist eine
Situation, in der sich einige Anhänger ermuntert fühlen können, die
Botschaft von Pegida in eine Tat umzumünzen. Und das ist
offensichtlich in Köln geschehen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen
dem Auftreten von Pegida und dem Attentat, der ist aber komplizierter
als eine einfache kausale Verbindung.

Die Zahl der Anschläge auf Flüchtlingsheime ist stark gestiegen.
Wächst der Fremdenhass in der Breite oder radika-lisiert sich eine
Minderheit?

Prof. Wagner: Das wissen wir nicht. Es gibt keine Untersuchungen
zu dieser Frage. Allerdings ziehen die vermeintlich klaren Antworten
der Pegida auf die Verunsicherung auslösende Zuwanderung auch
Menschen in den Bann, die nicht zur extremen Rechten zu zählen sind.
Zu vermuten ist, dass beides stattfindet: Dass sich die
fremdenfeindlichen Rechten radikalisieren und dass sich
fremdenfeindliche Ideen in der politischen Mitte ausbreiten. In der
Folge sind die Übergänge zwischen beiden Gruppen sind fließend.

Wovor hat der biedere Beamte Angst, der gegen das Flüchtlingsheim
in seiner Nachbarschaft Brandsätze schleudert?

Prof. Wagner: Die Ängste wurzeln in der Erwartung, dass materielle
Konkurrenz erwächst, dass etwa künftig Plätze in der Schule und im
Kindergarten fehlen. Aber es geht auch um den Lebensstil, um das
Gefühl kultureller Sicherheit. Hierbei zeigt sich, dass diejenigen
die größten Befürchtungen hegen, die die wenigsten Erfahrungen mit
Fremden haben. Deshalb ist die Pegida-Bewegung vor allem im Osten
erfolgreich, deshalb gibt es in den östlichen Bundesländern deutlich
mehr Brandanschläge auf Flüchtlingsheime. Die Angst entsteht nicht,
wenn etwas klar sicht- und interpretierbar vor Augen steht, sondern
sie entsteht vor dem Nebulösen, vor dem, was vielleicht kommen
könnte. Es ist eine menschliche Eigenschaft, darauf Antworten zu
suchen, bevorzugt leichte, die uns gut in den Kram passen.

Stichwort menschliche Eigenschaft: Ist Misstrauen gegenüber
Fremden eine anthropologische Konstante und von daher schwer zu
überwinden?

Prof. Wagner: Nein, denn wir kennen alle das Phänomen, dass wir
auf kulturell Neues mit großer Neugierde und Begeisterung zugehen –
etwa im Urlaub. Die Kombination von Neuem mit diffuser Bedrohlichkeit
entsteht durch Fernsehbilder, Nachrichten und nicht zuletzt durch
Sprache. Wer von einer „Flüchtlingswelle“ spricht, unterstreicht den
bedrohlichen Charakter.

Gibt es neben dem Ost-West-Gefälle beim Ablehnungspotenzial auch
ein Stadt-Land-Gefälle?

Prof. Wagner: Ja, und auch das wurzelt – so haben unsere
Forschungen ergeben – in den unterschiedlichen Möglichkeiten der
Menschen, Erfahrungen mit dem Fremden zu machen. In den Regionen, in
denen der Migrantenanteil niedriger ist, ist zugleich die
Fremdenfeindlichkeit ausgeprägter. Da der Anteil Zugewanderter in der
Stadt größer ist als auf dem Land, gibt es hier auch ein
Akzeptanzgefälle. Wobei an dieser Stelle genau der Punkt wäre, nicht
nur über mögliche Nachteile der Zuwanderung zu reden, sondern über
ihre Vorteile. So könnten sich gerade für den ländlichen Raum aus der
Migration positive Effekte für die ansässige Bevölkerung ergeben. In
einigen friesischen Gemeinden könnte etwa der Zuzug von
Flüchtlingsfamilien Grundschulen vor der Schließung retten, die
angesichts der demographischen Entwicklung und dem Mangel an Kindern
bereits ansteht. Das Gleiche gilt für Tante-Emma-Läden vor Ort, denen
bei fortgesetzter Abwanderung die Kunden fehlen.

Wie sind aber Aktionen zu werten wie die Unterbringung von 1000
Flüchtlingen in einem 100-Seelen-Dorf, einfach, weil dort ein
leerstehendes Bürodorf zur Verfügung stand?

Prof. Wagner: Das ist ein gutes Beispiel für den jetzt bestehenden
Zwang, mit den Ängsten umzugehen. Als Merkel sagte: „Wir schaffen
das!“, war dies zu diesem Zeitpunkt das richtige Signal, um
Zuversicht zu verbreiten. Die Diskussion, die wir momentan führen,
ist dagegen irreführend. Die Vorstellung, die Grenzen zu schließen
und damit wäre das Problem gelöst, ist abwegig. Eine Abschottung ist
weder juristisch durchsetzbar, noch praktikabel. Wie wäre es denn,
wenn auf unseren Fernsehern Bilder liefen von Kindern, die vor
deutschen oder europäischen Grenzzäunen verhungern? Weil dies völlig
undenkbar ist, erscheint mir die derzeitige Diskussion um Grenzzäune
verlogen. Man darf den Menschen nicht mit untauglichen Argumenten
vormachen, man könnte die Ursachen dieser Angst beseitigen. Deshalb
ist meine Forderung an die Berliner Politik, dass etwas für die
Menschen Spürbares passieren muss. Der Umgang mit dem
Flüchtlingsproblem muss effektiver und professioneller werden. Das
fängt bei der Unterbringung an: Zelte müssen angesichts des nahenden
Winters tabu sein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge muss
endlich eine zügige Registrierung umsetzen, damit
Erstaufnahmeeinrichtungen nicht mehr so überlaufen sind. Auf lange
Sicht dürfen Flüchtlinge auch nicht Turnhallen belegen, weil sonst
eine spürbare Konkurrenzsituation entsteht. Wenn die Bürokratie hier
die richtigen Antworten findet, wird Pegida der Boden entzogen.

Zeigen die Willkommenskultur und die klare Kante der Kanzlerin auf
der anderen Seite, dass die Gesellschaft aus den 90er-Jahren gelernt
hat, als fremdenfeindliche Anschläge von Kanzler Kohl mit dem Spruch
abgetan wurden, Deutschland sei ein ausländerfreundliches Land?

Prof. Wagner: Da hat sich tatsächlich etwas verbessert. Damals gab
es zwar Lichterketten, um Asylbewerberheime zu schützen, aber keine
derartig große Hilfsbereitschaft – nicht mal gegenüber den
Bürgerkriegsopfern vom Balkan. Die jüngste Welle der
Hilfsbereitschaft hat auch Menschen, die nicht zu patriotischen
Gefühlen neigen, stolz auf Deutschland gemacht. Aber: Jetzt ist es an
der Zeit, den alltäglichen Umgang mit Flüchtlingen in normale Bahnen
zu lenken.

Nimmt Horst Seehofer als verantwortungsvoller Politiker die Ängste
seiner Wähler ernst oder instrumentalisiert er sie nur für eigene
Zwecke und macht so die Parolen der Populisten hoffähig?

Prof. Wagner: Es ist zwar richtig, dass Seehofer die Ängste seiner
Wähler aufnimmt und auf Probleme vor Ort hinweist. Aber seine
Forderungen sind insofern populistisch, als seine Vorschläge nicht
funktionieren. „Grenzen dicht“ hält die Menschen nicht auf. Genauso
gut könnten wir verlangen, den Klimawandel abzuschaffen. Seit langem
war klar, dass Kriege, der Export von Armut von Europa in die Welt
und der Klimawandel neue Wanderungsbewegungen auslösen werden. Jetzt
sind sie da. Abblocken lassen sie sich nicht. Eine solche Forderung
soll nur seine unionsinterne Stellung stärken.

Was ist die größte Herausforderung für uns als
Aufnahmegesellschaft?

Prof. Wagner: Dass wir die Diskussion darüber führen, wie wir uns
als Aufnahmegesellschaft aufstellen wollen. Bisher haben wir darüber
diskutiert, wie wir das physische Überleben der Flüchtlinge
sicherstellen. Die Aufgaben entsprachen denen des
Katastrophenschutzes bei einem Hochwasser. Jetzt sind wir aber an dem
Punkt, überlegen zu müssen, was bedeutet es für Deutschland, Menschen
aus fremden Kulturen aufzunehmen, was bedeutet es für unser
Selbstverständnis, aber auch, welche Vorteile bringt uns das?
Entsprechende Planungen etwa im Bereich Ausbildung vorausgesetzt,
könnte sich beispielsweise der aus der demographischen Entwicklung
abzuleitende Pflegenotstand verhindern lassen.

Die Hauptlast tragen derzeit die Kommunen. Welche Möglichkeiten
haben sie, die Ängste der Bürger zu entkräften?

Prof. Wagner: Auf kommunaler Ebene entstehen eine Reihe von
Aufgaben. Die Zuständigkeit für die Erstaufnahme ist oft auf
unterschiedliche Instanzen verteilt: Mittelbehörden stellen
beispielsweise die Zelte, die Kommunen sorgen für Sicherheit, das
Rote Kreuz stellt die Suppenküche. Das muss in eine Hand kommen,
sonst kommt es bei der Organisation solcher Erstaufnahmeeinrichtungen
zu Brüchen. Wir haben zuletzt oft darüber diskutiert, warum es in
Flüchtlingsunterkünften zu Gewalt kommt – das ist schlicht die Folge,
wenn Menschen über Monate nur vier Quadratmeter zur Verfügung haben.
Die Einsicht, dass wir nicht nur eine physische Unterstützung leisten
müssen, sondern auch eine soziale, muss sich weiter durchsetzen. Das
funktioniert aber nicht, wenn die Einzelaufgaben einfach addiert
werden, ohne dass jemand für das Ganze verantwortlich ist. Die
Bürgermeister sind zudem in der Pflicht, die Flüchtlingsunterkünfte
in die lokale Bevölkerung einzubinden – etwa über entsprechende
Angebote. Die Geflüchteten müssen sozial eingebunden werden, ebenso
müssen die Einheimischen in die Situation der Geflüchteten
eingebunden werden.

Das Interview führte

Joachim Zießler

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