Das Jahr 2016 brachte so viele Umwälzungen, dass
sich das Gefühl einer Epochenwende aufdrängte. Auch 2017 wird nicht
beschaulich werden, vermutet Dan Krause, Politikwissenschaftler an
der Helmut-Schmidt-Uni in Hamburg. „Die wesentlichen Trends setzen
sich fort. Aber das Jahr 2017 wird Antworten geben, etwa, wie groß
die Wut auf die Eliten hierzulande ist, und ob Europa noch eine
Chance hat.
Wird 2017 das Jahr, in dem das Projekt Europa stirbt?
Dan Krause: Grundsätzlich werden sich 2017 zentrale Trends des
Jahres 2016 fortsetzen: ein Ordnungsdefizit, weil der Hegemon USA
weiter an Macht verliert und insgesamt eine Machtverschiebung vom
Westen nach Asien, aber auch in andere Teile der Welt stattfindet.
Diese Entwicklung findet gegenwärtig jedoch ohne ausreichend
zunehmende multilaterale Zusammenarbeit oder Stärkung entsprechender
Institutionen, wie z.B. der UN, statt. Die Forderung der neuen Mächte
nach mehr Beteiligung wurde lange zurückgewiesen, nun sind sie
entweder nicht willens oder (noch) nicht in der Lage, ausreichend
Verantwortung zu übernehmen. Und leider steckt das früher global
bewunderte supranationale Vorzeigeprojekt namens EU in seiner wohl
schwersten Krise. Zeitgleich gewinnen nichtstaatliche Akteure weiter
an Einfluss und zunehmende soziale Ungleichheit zwischen und
innerhalb von Gesellschaften sowie gewaltsame Konflikte sorgen für
anhaltende Migrationsbewegungen. Der zunehmenden Komplexität bei
gleichzeitiger Abnahme politischer Steuerungsfähigkeit und
Machtdiffusion wird gegenwärtig versucht, mittels Rückzug auf den
Nationalstaat zu begegnen. 2017 wird Antworten liefern, auch darüber,
ob die EU eine Zukunft hat. Die Parlamentswahl in den Niederlanden im
März dürfte zum Stimmungstest über das Ausmaß der Unzufriedenheit mit
der EU und den Eliten werden. Sollte Geert Wilders seine Partei zur
stärksten Kraft machen können, wäre sogar ein „Nexit“ denkbar. In
jedem Fall dürfte das Wahlergebnis ein Fingerzeig für die Wahlen in
Frankreich werden und sollte dort Marine Le Pen gewinnen, ist die EU
– zumindest in ihrer derzeitigen Form – wohl am Ende.
Im Wahlkampf der Niederländer legen die Briten ihren
Brexit-Fahrplan vor. Werden sich die Europa-Feinde gegenseitig den
Ball zuschieben?
Krause: Ich vermute eher, dass der Brexit-Prozess zunächst unter
dem Radar laufen wird. Zum einen hat die Regierung von Theresa May
offenbar selbst noch keinen Plan, welche Form der Brexit haben soll.
Zum anderen dürfte auch die EU-Kommission zunächst die Wahlen in den
drei Kernstaaten abwarten.
Würde ein konfliktreicher, harter Brexit die Renaissance eines
Zeitalters der ungezügelten Nationalismen einläuten?
Krause: Der Trend zur Renationalisierung dürfte noch anhalten,
auch wenn Einigkeit darüber besteht, dass keine der großen
Herausforderungen – Klima, Frieden, Entwicklung, Migration,
Cyber-Sicherheit – national gelöst werden kann. Vielleicht wird 2017
aber das Jahr, in dem der Maximalausschlag erreicht ist und der
Rückschwung des Pendels hin zu einer Phase verstärkter
transnationaler Kooperation beginnt. Das würde die herrschenden
Eliten jedoch nicht von der Pflicht entheben, zu hinterfragen, wie
groß ihr Anteil daran war und ist, dass der Nutzen des Projekts
Europa von den Bürgern immer weniger erkannt und die EU oft als
überkompliziertes und ungerechtes neoliberales Elitenprojekt
wahrgenommen wird. Ist Trumps Ankündigung, Europa mehr Lasten
aufzubürden, eine Chance, die militärpolitische Zusammenarbeit
auszubauen – weniger Waffensysteme, weniger Mehrfachstrukturen, mehr
Planung?
Krause: Unbedingt. Von der Ukraine über die Türkei, den Nahen
Osten bis nach Nordafrika haben wir einen Krisenbogen der
Instabilität und der Konflikte. Die Europäer stehen hier in der
Pflicht, nicht ausschließlich, aber eben auch sicherheitspolitisch
und militärisch, zumal offen ist, welche Ankündigungen Trump
tatsächlich umsetzen wird. Auch das zukünftige Verhältnis zu einem
zunehmend antiwestlich und militärisch offensiver auftretenden
Russland ist ungeklärt. Die Welt dürfte unter einem Präsidenten Trump
nicht berechenbarer werden. Das sollte die Bereitschaft erhöhen,
insgesamt in Stabilität und Prävention zu investieren. Hier erscheint
mir die Konzentration auf Europas unmittelbares Umfeld sinnvoll,
bedenkt man etwa das Krisen- und Konfliktpotenzial in Osteuropa, auf
dem Balkan oder in Afrika.
Wie tragfähig wird die gefühlte Nähe zwischen dem Autokraten Putin
und dem mit der Demokratie fremdelnden mächtigsten Demokraten im
diplomatischen Alltag sein?
Krause: Ich vermute, dass sich beide prächtig verstehen werden.
Nicht nur, weil Trump einen Außenminister ernannt hat, der Träger des
russischen Freundschaftsordens ist. Beide sind auch ähnlich
gestrickt: Sie sind Nationalisten, aber auch Realpolitiker. Es muss
für die internationale Politik auch per se nicht schlecht sein, wenn
ein US-Präsident sich mit dem russischen Präsidenten versteht und mit
dem „demokratischen Imperialismus“ seiner Vorgänger fremdelt, der von
Afghanistan über den Irak, Libyen und Syrien zu mehr Instabilität
geführt und eher die Dschihadisten denn die Demokratie gestärkt hat.
Werden die neuen Demokratien in Ost- und Mitteleuropa jetzt eher
die Nähe der Westeuropäer suchen, weil sie nicht darauf vertrauen
können, dass Trump ihre Sicherheit garantiert?
Krause: Das ist gut möglich. Falls Trump Ernst macht, Soldaten
abzieht und sich mit Putin verständigt, könnten leicht die
Osteuropäer die Verlierer sein. Eine stärkere Anlehnung an die
Westeuropäer wäre schlüssig und findet ja auch bereits statt.
Gelingt es Europa besser als den USA, sich gegen die fünften
Kolonnen auf „Fakebook“ zu wappnen?
Krause: Meine Vermutung ist ja. Allerdings ist es auch hierzulande
schwieriger geworden, weil es interessierten Kreisen mittels Fake
News und auf anderen Wegen bis zu einem gewissen Grad gelungen ist,
die Glaubwürdigkeit etablierter Informationsübermittler zu
untergraben. Mangels allgemein akzeptierter Fakten bleibt damit
letztlich Vieles im Ungefähren. Hier müssen sich allerdings auch die
etablierten Medien hinterfragen, wo ihre Versäumnisse und ihre
Verantwortung lagen und liegen. Eine der Herausforderungen von 2017
wird sein, Empathie für die Erfahrungswelt des Anderen
wiederzubeleben. Ohne die kann kein wirklicher Austausch, keine
Verständigung gelingen.
Welche Karte wird Peking spielen, um Trump zu zähmen, die
ökonomische oder die militärische?
Krause: Auch in Richtung China sind Trumps Signale
widersprüchlich. Der angekündigte Ausstieg aus der Transpazifischen
Partnerschaft TPP wurde in Peking jubelnd aufgenommen, weil es den
Weg frei macht für Chinas eigene Ambitionen. Ich denke, China wird
außen- und sicherheitspolitisch gesehen global eher zurückhaltend, in
seinem Vorfeld und bei der Verteidigung seiner Interessen aber
zunehmend selbstbewusst auftreten, weil die schwindende Dominanz der
USA wahrgenommen wird. Peking hat seine Asian Infrastructure
Investmentbank gegen den Willen der USA durchgesetzt und im
Südchinesischen Meer mit dem Ausbau kleiner Riffe und Felsen zu
Stützpunkten gegen internationalen Druck Fakten geschaffen. Zudem
weiß man, dass Trump sein Versprechen, die USA wieder stark zu
machen, nicht einlösen kann, wenn er einen Handelskrieg vom Zaun
bricht. Die USA sind wichtig für die chinesische Wirtschaft, aber
nicht alternativlos. So hat China beispielsweise damit begonnen,
US-Staatsanleihen abzustoßen und die Rolle des größten US-Gläubigers
an Japan übergeben. Trumps scheinbare Grundannahme, auch in der
internationalen Politik sei alles verhandelbar, werden die Chinesen
nicht hinnehmen. Zu selbstbewusst scheint das „Reich der Mitte“.
Zudem legitimiert die KP ihren Machtanspruch bei nachlassendem
Wirtschaftswachstum und immer noch immensen sozialen und ökologischen
Problemen verstärkt auch über die Nationalismus-Karte und eine
zunehmend robustere Außenpolitik.
Bisher enttäuschte noch jeder US-Präsident die Erwartungen seiner
Wähler. Wird dieser Moment bei Trump früher kommen, weil er so viele
irrationale Versprechen gemacht hat?
Krause: Das glaube ich nicht. Kurzfristig könnte er durchaus
Erfolge verbuchen, wie jetzt das vermeintliche Einknicken von
Weltkonzernen wie Boeing oder Ford zeigt. Auf lange Sicht bin ich
aber eher skeptisch.
Werden seine Anhänger weiter Fakten ignorieren und zufrieden sein,
wenn härter gegen Sündenböcke vorgegangen wird?
Krause: Das steht zu befürchten. Es hat alle verblüfft, wie groß
das Ausmaß der Wut auf das Establishment in den USA war. Ich gehe
jedoch nicht davon aus, dass Trump die Grenzen der Demokratie
überschreiten wird, denn ich halte ihn für einen Populisten und
Nationalisten, nicht aber für einen Extremisten. Man sollte zudem
auch nicht die Selbstregulierungskräfte der USA unterschätzen.
Angela Merkel will mit ihrer Kandidatur ein Zeichen der
Beständigkeit in einer rapide sich wandelnden Welt setzen. Öffnet sie
so die Flanke für einen Anti-Establishment-Wahlkampf?
Krause: Diese Flanke scheint mir in Deutschland noch nicht so
verwundbar zu sein. Tatsächlich scheinen viele das Gefühl zu teilen,
das Obama bei seinem Abschiedsbesuch in Worte kleidete, dass Merkel
als personifizierte Beständigkeit wichtig wäre. Ihre Bilanz ist
jedoch gemischt: In der Euro-Krise war ihre Haushaltspolitik
tendenziell richtig, dieser fehlte aber die Ergänzung durch ein
gesamteuropäisches Wachstumsprogramm. Ihre Flüchtlingspolitik gab dem
Projekt Europa ein Stück seiner menschlichen Dimension zurück, war
aber innenpolitisch lange von Kontrollverlust, Konzeptlosigkeit und
dem Fehlen grundlegend notwendiger Begleitmaßnahmen geprägt. Ohne
Abstimmung auf EU-Ebene und im Gefolge der Euro-Krise war Merkel in
der Flüchtlingsfrage am Ende selbst von den engsten europäischen
Partnern isoliert. Zu den im Jahre 2017 andauernden Trends dürfte
leider auch der Terrorismus gehören. Nach einem möglichen Ende des IS
könnte die Zahl der Anschläge in Europa durch heimkehrende Kämpfer
sogar noch ansteigen. Zeitgleich droht Mali das neue Afghanistan zu
werden, auch, weil wir dort viele derselben Fehler wiederholen. Zu
wenig, zu spät, ohne ausreichendes politisches Konzept, zu geringer
Einfluss auf wichtige Akteure und ein zunehmend blutigerer
Guerillakrieg. Meine Hoffnung für 2017 ist, dass wir versuchen,
globale Probleme mit mehr internationaler Kooperation zu lösen. Ein
Weg wäre – koordiniert von den UN und begleitet von überregionaler
Zusammenarbeit und Solidarität – für die unterschiedlichen Probleme
gemeinsam lokale und regionale Lösungen zu suchen und zu
unterstützen. Dazu braucht es aber die Zusammenarbeit vieler Mächte,
einschließlich schwieriger Akteure, wie Russland, ein Zusammengehen
von globalem Süden und globalem Norden und die gezielte Stärkung
effektiver regionaler Institutionen und Akteure auf allen Ebenen.
Das Interview führte
Joachim Zießler
Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
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