Landeszeitung Lüneburg: Der gebremste Aufstieg – Interview mit BRICS-Expertin Dr. Miriam Prys-Hansen

Brasilien steckt im Rezessions- und
Korruptionssumpf, Indien kann die Lage der Ärmsten trotz Wachstum
nicht bessern, Russland kämpft angesichts drohender Sanktionen gegen
niedrige Ölpreise, China schwächelt, Südafrika lebt auf Pump. Vor
diesem Hintergrund konnte der BRICS-Gipfel im indischen Goa keinen
neuen Glanz verbreiten, analysiert Dr. Miriam Prys-Hansen vom
Hamburger GIGA-Institut. „In diesem Club passt nicht viel zusammen.
Angst muss der Westen nicht haben.“

Hat der Club der aufsteigenden Mächte in Goa etwas vom schon
verblassten Glanz aufpoliert?

Dr. Miriam Prys-Hansen: Das liegt im Auge des Betrachters. In den
internationalen Medien, insbesondere in den BRICS-Staaten selbst,
wird zwar gelobt, wie viel die fünf BRICS-Staaten erreicht haben.
Einerseits gibt es in der Tat neue Felder der Kooperation: So wurde
der Bekämpfung des Terrorismus breiter Raum gegeben und eine
verstärkte landwirtschaftliche Forschung verabredet. Im Detail
betrachtet hat sich für mich aber eher bestätigt, dass dies ein Club
ist, in dem nicht viel zusammenpasst. In der Abschlusserklärung von
Goa stehen sehr viele Allgemeinplätze, die aus den letzten
Gipfelerklärungen rauskopiert scheinen. Bezeichnend für die BRICS
ist, dass die bilateralen Beziehungen im Vordergrund bleiben, etwa
bei den gigantischen Rüstungsabkommen zwischen Indien und Russland.
Als Gruppe ist die BRICS schwächer, als in der Vergangenheit
befürchtet wurde. Stark macht die Gruppe, dass dort mit Russland,
Indien und China drei Schwergewichte in einem auf Kooperation
angelegten Forum zusammenkommen.

Wirtschaftlich erlebt der Club eine Schwächephase. Bringt das auch
seine politischen Sollbruchstellen zum Vorschein?

Dr. Prys-Hansen: Das gilt eher nicht für die beiden kleineren
Staaten, Südafrika und Brasilien. Für sie erhöht sich die Bedeutung
der BRICS im Abschwung sogar, garantiert sie ihnen doch in einer
schwierigeren Phase den Zugang zum asiatischen Markt. Folgerichtig
ging es etwa in den bilateralen Treffen zwischen Brasilien und Indien
fast ausschließlich um wirtschaftliche Kooperation. China schlägt
gleichzeitig nun mehr Skepsis entgegen, weil die anderen vier
befürchten, dass sie angesichts des Schwächelns des chinesischen
Wirtschaftsraumes lediglich als Absatzmärkte für die chinesische
Überschussproduktion herhalten sollen. Deshalb schaffte es der vor
Goa lancierte Vorschlag aus Peking, zwischen den fünf Staaten eine
Freihandelszone zu schaffen, noch nicht einmal auf die Agenda des
Gipfels.

Den Anspruch, internationale Konflikte lösen zu wollen, können die
BRICS-Staaten gemeinschaftlich kaum erfüllen. Sind sie eher Rivalen
als Partner?

Dr. Prys-Hansen: Rivalität besteht vor allem zwischen den großen
Drei, vor allem aber zwischen China und Indien. Insbesondere die
Nibelungentreue Pekings zu Pakistan ist schon immer ein wunder Punkt
in den Beziehungen zwischen Indien und China. Neu Delhi wurde auf dem
Gipfel massiv dafür kritisiert, seinen Konflikt mit dem verfeindeten
Nachbarn Pakistan als Thema in den Vordergrund und damit die
wirtschaftliche Entwicklung in den Hintergrund gerückt zu haben. Als
Schutzpatron Pakistans sieht sich China. So verhinderte Peking, dass
Indien seine Erklärungen gegen grenzüberschreitenden Terrorismus –
die ebenfalls auf Islamabad zielte – in das Abschlussdokument drücken
konnte.

Sind die umfangreichen Rüstungsgeschäfte zwischen Neu Delhi und
Moskau genau deshalb auch als Signal an Peking gedacht?

Dr. Prys-Hansen: Das kann man so sehen. Aber das war ein Signal in
zwei Richtungen. Denn Russland hat vor dem Gipfel auch mit Pakistan
Rüstungsgeschäfte und Militärübungen vereinbart. Da schrillten in Neu
Del-hi natürlich die Alarmglocken und die Bereitschaft wuchs, die
traditionell guten Beziehungen zum Kreml wieder zu pflegen.

Als die BRICS aus der Taufe gehoben wurden, herrschte in der
Finanzwelt Euphorie. Goldman Sachs legte einen entsprechenden Fonds
auf, der mittlerweile wieder geschlossen wurde. Sind die
wirtschaftlichen Blütenträume verwelkt?

Dr. Prys-Hansen: Tatsächlich war Goldman Sachs sogar Taufpate,
denn ihr Chefökonom Jim O–Neill prägte das Akronym BRICS bereits 2001
für ihren Fonds. Dann wurde daraus ein politischer Selbstläufer: Die
Außenminister trafen sich erstmals 2006 und das erste Gipfeltreffen
der Staatsoberhäupter war 2009. Es ist sehr bemerkenswert, wie sich
hier eine Investmentmöglichkeit politisierte. Mittlerweile ist die
Euphorie über das Wirtschaftswunder der BRICS insbesondere in den USA
etwas abgeflacht. Die Frage ist, ob es sich um einen vorübergehenden
Dämpfer handelt oder um eine bleibende Schwäche – und der Westen
steht ebenfalls nicht glänzend da. Auch hier hilft es, zwischen den
einzelne BRICS-Staaten zu differenzieren. Während Brasilien, Russland
und Südafrika zumindest noch dieses Jahr (die Prognosen sind nicht
mehr ganz so negativ) tatsächlich sich in einer recht schwierigen
wirtschaftlichen Lage befinden, wächst China immerhin noch mit über
6% und Indien ist sozusagen der alleinige ökonomische BRICS-Stern mit
Strahlkraft bei einem Wachstum von 7,6 Prozent.

China betrieb 2015 mehr Handel mit den USA als mit seinen
BRICS-Partnern. Was ist stärker: Profitorientierte Fliehkräfte oder
„Bruderliebe“?

Dr. Prys-Hansen: Zugespitzt lässt sich schon sagen, dass die
Profiterwartung über allem thront. Der Handel zwischen den
BRICS-Staaten ist einfach sehr schwach, erreichte 2015 nur ein
Volumen von 12 Prozent vom gesamten Handel dieser Staaten. In den
Gipfelerklärungen wird das verklärt mit der Formulierung, es gebe
sehr viel Potenzial. Jubelmeldungen über den in den vergangenen Tagen
um 70 Prozent gewachsenen Handel zwischen Indien und Brasilien haben
ebenfalls nur einen überschaubaren Wert, berücksichtigt man dessen
geringes Ausgangsniveau.

Ist China mit seinen Seidenstraßen-Wirtschaftsraum-Plänen und
Mauern zur See überhaupt bereit, die anderen Staaten als annähernd
gleichwertig zu akzeptieren?

Dr. Prys-Hansen: Aus Sicht Chinas war BRICS schon immer ein
Mittel, um zu zeigen, dass Peking imstande ist, eine derartige
Koalition von Staaten anzuführen. Hier manifestiert sich ein global
wachsender Führungsanspruch. Aber: Es ist nur eines von vielen
Projekten der chinesischen Strategie. Etwa die AIIB, die Asiatische
Investment- und Infrastrukturbank. Das Seidenstraßen-Projekt ist das
Flaggschiff der chinesischen Diplomatie. BRICS wurde sogar als bloßer
Steigbügelhalter für den Seidenstraßen-Wirtschaftsraum, der
Zentralasien, Westasien, den Kaukasus und die Schwarzmeerregion
umfassen soll, bezeichnet. Dabei birgt die Seidenstraße für BRICS
durchaus Sprengkraft, ist doch dessen konkretestes Projekt der
China-Pakistan-Korridor. Der geht durch Gebiete, die Indien für sich
beansprucht, aber Pakistan besetzt hat. Indien kann sich der
Seidenstraßeninitiative nicht anschließen, denn das würde bedeuten,
Pakistans Anspruch auf diese Gebiete zu tolerieren.

Ist BRICS für China eine Fingerübung, die auf die künftige Rolle
als Weltmacht vorbereiten soll?

Dr. Prys-Hansen: Mit BRICS verfolgt Peking eine zweigleisige
Strategie: Einerseits sammelt China Erfahrungen im Schmieden von
Allianzen, andererseits soll die Gruppe international Ängste vor
einem immer stärker werdenden China nehmen, indem gezeigt wird, dass
China nur im Kollektiv Änderungen der Machtarchitektur, etwa eine
Reform der Weltbank, einfordert. Peking kann sich hinter BRICS auch
verstecken, beziehungsweise mehr Legitimität behaupten.

Trotz bröckelnden Lacks nach acht Jahren: Sind wir unweigerlich
auf dem Weg zur multipolaren Welt?

Dr. Prys-Hansen: Man muss unterscheiden zwischen BRICS als Verbund
und BRICS als Gruppe von Einzelstaaten. So ist unvermeidlich, dass
die Einzelstaaten mächtiger und eine neue Rolle einfordern werden.
Entscheidend ist, dass sie das auch können ohne die BRICS als
Institution. Indien und China sind in der Zukunft global player in
allen zentralen Politikfeldern. Die BRICS, die weder über einen
Präsidenten noch über ein Sekretariat verfügt, wird sich dagegen oft
auf Symbolpolitik beschränken müssen. Wir gehen also unvermeidlich
auf eine multipolare Welt zu, mit China und Indien als neue
asiatische Machtzentren, die 35 Prozent der Weltbevölkerung
repräsentieren. Der Westen tut gut daran, sich darauf einzustellen.
Aber BRICS wird kein Ansprechpartner sein, verfügt nicht mal über
eine Telefonnummer. Angst muss der Westen also vor diesem Verbund
nicht haben, sollte dessen Kooperation eher mit Wohlwollen begleiten,
da sich dort diese potenziellen Weltmächte in einem auf Kooperation
ausgelegten Forum mit ihren diversen politischen und wirtschaftlichen
Konflikten auseinandersetzen.

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Werner Kolbe
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