Landeszeitung Lüneburg: „Der Krieg dauerte in den Köpfen fort“ – Interview mit dem Historiker Prof.Gerhard Hirschfeld

Der Zusammenfall der Jahrestage 100 Jahre Erster
Weltkrieg – 75 Jahre Zweiter Weltkrieg drängt die Frage nach der
Bedeutung des „Großen Krieges“ für die Gewaltgeschichte des letzten
Jahrhunderts auf. Sie war hoch, sagt der Stuttgarter Historiker Prof.
Gerhard Hirschfeld: Im Ersten Weltkrieg wurde der Samen gelegt für
die folgende noch größere Katastrophe.

Sind die Verbindungslinien zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg
so stark, dass man die Epoche als einen zweiten Dreißigjährigen Krieg
sehen kann?

Prof. Gerhard Hirschfeld: Dieses zu häufig gebrauchte Schlagwort
stammt eigentlich aus dem Zweiten Weltkrieg. General de Gaulle hat es
zuerst verwendet. Was er damit meinte, erscheint plausibel: Der Erste
Weltkrieg schuf in hohem Maße die Voraussetzungen für Entwicklungen,
die schließlich in den Zweiten Weltkrieg mündeten. Der Große Krieg
war global und bereits in Ansätzen „total“, etwa was Waffen,
Kampfweisen und Propaganda angeht. Bereits im August 1914 wurden
Zivilisten zum Kriegsziel, als die Deutschen das neutrale Belgien
überfielen und es zu völkerrechtwidrigen Repressalien gegen
vermeintliche „Franktireurs“ kam. Das gilt für Serbien, wo
österreichisch-ungarische Truppen schon bei Kriegsbeginn ebenfalls
Massaker an der Zivilbevölkerung verübten. Ebenso kam es an der
gesamten Ostfront immer wieder zu schrecklichen Übergriffen auf die
Zivilbevölkerung.

In Frankreich ist die Schlacht an der Somme noch heute ebenso
gegenwärtig wie in Großbritannien das Gedenken an die auf
flandrischen Feldern verblutete Generation. Wie geriet der Erste
Weltkrieg in Deutschland ins Erinnerungsabseits?

Prof. Hirschfeld: Der Zweite Weltkrieg hat sich hierzulande
erinnerungspolitisch quasi über den Ersten gestülpt – vor allem wegen
der höheren Zahl der Opfer. So forderte der Erste Weltkrieg in
Deutschland ca. 1,5 Millionen tote Soldaten, der Zweite vermutlich
weit über fünf Millionen. Die Zahl der in Folge von Kriegshandlungen
getöteten Zivilisten ist ebenfalls ungleich höher, wenngleich diese
sich annähern, rechnet man die Opfer der Hungerkatastrophe im sog.
Steckrübenwinter von 1916/17 hinzu. Wenn man sich dann noch die Opfer
der Spanischen Grippe vor Augen führt, die unter den von
Mangelernährung geschwächten Menschen wütete, kommen wir auf ganz
exorbitante Zahlen. Einige Historiker sprechen weltweit von 35
Millionen Grippetoten. Die Kriegshandlungen selbst waren sicherlich
im Zweiten Weltkrieg weitaus massiver, aber sie waren in ihrer
Totalität bereits zwischen 1914 und 1918 angelegt.

Angelegt waren viele Entwicklungen: Der erfolgreichste deutsche
U-Boot-Kommandant war einer des Ersten Weltkriegs, der strategische
Luftkrieg und die Panzerwaffe hatten ihren Ursprung im Großen Krieg.
Es kam zur genozidalen Vertreibung der Armenier. Der Sozialstaat
wurde zur Versorgung der Versehrten ausgebaut. War die
„Urkatastrophe“ zugleich das Laboratorium des 20. Jahrhunderts?

Prof. Hirschfeld: Ja, weil sich viele prägende Handlungsweisen mit
diesen Ereignissen verknüpfen. Ein Beispiel: Die Generäle führten
nicht mehr von der Front aus, sondern ihre Kommandozentralen befanden
sich „weit weg vom Schuss“. Die Distanz zwischen der kämpfenden
Truppe und den militärischen Entscheidungsträgern war derart
gewaltig, dass die Generäle das Aufopfern Hunderttausender Soldaten
sozusagen am grünen Tisch fest einkalkulierten. Das gilt für den
deutschen Angriff vor Verdun 1916, den Falkenhayn ungeachtet der zu
erwartenden massiven Verluste auf beiden Seiten befahl. Das gilt aber
auch für die Angriffe der Franzosen und Engländer an der Somme 1916,
wobei allein der erste Tag der Schlacht (1. Juli 1916) die bis dahin
höchsten Verluste in der englischen Militärgeschichte verursachte.

Sie nannten das Stichwort, ich greife es auf: War der Erste
Weltkrieg bereits ein entgrenzter „totaler Krieg“ wie der Zweite?

Prof. Hirschfeld: Das war er in Ansätzen. Nimmt man etwa den
Genozid an den Armeniern, so erkennt man in welchem Maße die
Regierung der Jungtürken Teile der eigenen Bevölkerung zu
ideologischen Feinden erklärte. Die Armenier waren Angehörige des
Osmanischen Reichs und wurden von diesem nun zu Sündenböcken gemacht.
Ähnliches geschah im Zweiten Weltkrieg, als die Ermordung der
deutschen bzw. der europäischen Juden vom NS-Regime beschlossen und
realisiert wurde.

Unterscheiden sich die Fronterfahrungen der deutschen Soldaten in
beiden Kriegen?

Prof. Hirschfeld: Ja, zumindest bezogen auf die Westfront im
Ersten Weltkrieg. Diese war lange Zeit über immobil, zu einem Krieg
der Gräben erstarrt. Über zwei Jahre lang lagen sich dort die Armeen
gegenüber. Angriffe und Gegenangriffe führten nur zu geringen
Geländegewinnen. Im Osten dagegen ähnelten sich die Erfahrungen in
den beiden Weltkriegen. Dort war der Krieg mobil, es wurden weite
Flächen erobert und gingen wieder verloren. Den Fingerzeig in
Richtung Bewegungskrieg lieferte der Durchbruch der Alliierten bei
Amiens im August 1918. Diese für die deutsche Niederlage
mitentscheidende Schlacht wurde von den dort von den Alliierten
eingesetzten neuen Panzern (Tanks) gewonnen.

Sind die Blitzkriegsplanungen nationalsozialistischer
Kriegs-Strategen eine Antwort auf das Scheitern des
Schlieffenplan-Konzeptes im Ersten Weltkrieg?

Prof. Hirschfeld: Das ist schwierig zu beantworten, weil sich
Hitler meines Wissens nie direkt auf den Schlieffen-Plan bezogen hat.
Diese Strategie wurde eher mitgedacht als kritisch reflektiert. Aber
was Hitler natürlich unter allen Umständen vermeiden wollte, war ein
erneuter Stellungskrieg wie nach 1914. In diese Richtung äußerte er
sich während der für die Wehrmacht siegreichen Blitzkriege (bis
1941). 1943 hingegen nahm er in einem Tischgespräch allerdings Bezug
auf die „erfolgreiche Schlachtführung im Ersten Weltkrieg“, was für
ihn hieß, keinen Meter eroberten Boden preiszugeben.

Im Ersten Weltkrieg war die Zahl der Todesurteile der deutschen
Militärgerichtsbarkeit auch im Vergleich mit den Kriegsgegnern
relativ gering. War die drakonische Militärjustiz Hitlers Lehre aus
dem Matrosenaufstand und den Soldatenräten? 

Prof. Hirschfeld: Ja, das ist eindeutig eine Reaktion. Die
deutschen Militärgerichte wurden von der NS-Führung in der Rückschau
beschuldigt, viel zu milde geurteilt zu haben. So wurden in den
deutschen Armeen (zumeist wegen Desertion) Todesurteile gegen 48
Soldaten vollstreckt, bei den Briten waren es 346, bei den Franzosen
ca. 600 und bei den Italienern etwa 750. Im Zweiten Weltkrieg wurden
in der Wehrmacht 20-25 000 Todesurteile gegen Soldaten
exekutiert. Dabei ist die Gefahr drakonischer Bestrafung nicht
entscheidend dafür, ob ein Soldat durchhält oder desertiert. Da sind
andere Faktoren ausschlaggebender.

„Im Felde unbesiegt, aber von der Heimatfront verraten“: Wie sehr
spielte die Dolchstoßlegende den Nationalsozialisten bei der
Ausschaltung ihrer Gegner und bei der Entfachung neuer
Kriegsbegeisterung in die Karten?

Prof. Hirschfeld: Der von Hindenburg bei seiner Aussage vor dem
Parlamentarischen Untersuchungsausschuss 1919 ins Spiel gebrachte
angebliche Dolchstoß gegen das „siegreiche Heer“ wurde von Hitler
aufgegriffen und verstärkt. Dieser machte vor allem die Juden dafür
verantwortlich, der Truppe in den Rücken gefallen zu sein. Allerdings
hat die Dolchstoßlegende, trotz einer gewissen Akzeptanz in der
Bevölkerung, kaum etwas zur Bereitschaft der Deutschen, sich im
Zweiten Weltkrieg in die Pflicht nehmen zu lassen, beigetragen. Hier
hatte etwa die bis 1944 recht ordentliche Versorgung der deutschen
Bevölkerung – vor allem zu Lasten der besetzten Gebiete und der
Millionen Zwangsarbeiter – wesentlich größeren Anteil. Der Erste
Weltkrieg ist zwar auch in der Heimat, aber nicht von der Heimat
verloren worden. Verloren haben ihn die politischen und militärischen
Führer des Kaiserreichs. Das letzte Hurra der Obersten Heeresleitung,
die „Operation Michael“ im Frühjahr 1918 wurde von den Soldaten zwar
noch mitgetragen. Aber als sich diese Offensive im April festlief,
brach die Front zusammen, es kam zu einer Demoralisierung der
Soldaten. Viele Soldaten blieben der Front fern, versteckten sich in
der Etappe oder kehrten nicht aus dem Heimaturlaub zurück. Es wird
geschätzt, dass bis zum Herbst 1918 ca. 800 000 bis eine
Million Soldaten der Front verloren gingen. Die Opferbereitschaft der
Soldaten war über viele Monate hin zunehmend ausgehöhlt worden.

In vielem erinnert Chinas heutige Lage an die des wilhelminischen
Deutschlands und die Konflikte in Ostasien an das Pulverfass Balkan
Anfang des 20. Jahrhunderts. Kommt es dort auch zur Katastrophe und
welche Lehren können die heutigen Politiker aus dem Ersten Weltkrieg
ziehen, um eine erneute derartige Katastrophe zu vermeiden?  

Prof. Hirschfeld: Das ist keine einfach zu beantwortende Frage,
denn Historiker sind eigentlich rückwärtsgewandte Propheten. Zunächst
einmal: Geschichte wiederholt sich nicht. Zu unterschiedlich sind die
Umstände damals und heute. Damals führten Nationalstaaten Kriege
gegeneinander, heute haben wir Bündnissysteme wie die EU und die
NATO oder Strukturen des Interessenausgleichs wie etwa die KSZE. Aber
die menschliche Natur bleibt sich gleich. Alle Gemeinheiten und
Eitelkeiten der handelnden Personen können sich auswirken. Damals wie
heute werden die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen überschätzt. Auch
getäuscht wird heute wie damals, betrachtet man etwa die verdeckten
Operationen russischer Einheiten in der Ostukraine. Ich würde aber
davor warnen, einfache Parallelen herzustellen und zu behaupten, die
Situation entspräche der von 1914.

Aber gibt es nicht doch Parallelen? China ist eine Landmacht wie
damals das Kaiserreich, das der beherrschenden Seemacht den Zugriff
auf seine Handelskanäle und seine Einflusssphäre versagen will. Und
es kann dank seines wirtschaftlichen Aufschwungs vor Kraft kaum
laufen wie damals das wilhelminische Deutschland…

Prof. Hirschfeld: Die Ambitionen sind sicher vergleichbar. Aber
die Chinesen wissen, dass sie in der globalisierten Wirtschaft mit
einer simplen Hau-drauf-Strategie nicht punkten können. So gelingt es
ihnen in Afrika beispielsweise, sich das Spiel der Globalität zu
Nutzen zu machen. Sie vergrößern ihren Einflussbereich, gerade weil
sie unterhalb der Schwelle kriegerischer Aggression bleiben. Gewisse
Analogien sehe ich eher noch in den Territorialkonflikten zwischen
China einerseits und Japan sowie Korea andererseits. Da wird zum Teil
über unbewohnte Inseln gestritten, die kaum wirtschaftliche oder
strategische Bedeutung haben, aber es kommt eine Kategorie zum
Tragen, die auch im Ersten Weltkrieg bedeutend war: das Ehrgefühl.
Wer wegen des nationalen Prestiges um ein paar Felsen im Meer
streitet, spielt zweifellos mit dem Feuer.

Das Interview führte

Joachim Zießler

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