Obwohl Präsidentin und Kongress den Forderungen
der Demonstranten entgegenkommen, gehen die Proteste in Brasilien
weiter. Während sich Brasiliens Fußballer am Mittwoch ins
Confed-Cup-Finale schossen, feuerte die Polizei vor dem Stadion mit
Tränengas auf vermummte Randalierer. Zugleich protestierten 50000
Demonstranten friedlich gegen Korruption und soziale Missstände.
Südamerika-Expertin Dr. Claudia Zilla: „Der Druck auf die Eliten
steigt. Die Chance auf einen Demokratisierungsimpuls ist gegeben.
Brasilien gilt oft als Riese, der vor Kraft kaum laufen kann.
Steht dieser Riese auf tönernen Füßen?
Dr. Claudia Zilla: Nein, das ist nicht der Fall. Weil die Gründe
für die derzeitigen Demonstrationen nicht nur in Defiziten liegen,
sondern auch in Errungenschaften der vergangenen zehn Jahre. Es
besteht ein demokratischer Kontext, in dem solche Demonstrationen
möglich sind. Trotz einiger Ausschreitungen kam es nicht zu
Verallgemeinerungen. Sowohl Demonstranten als auch Regierung
unterscheiden zwischen gewaltbereiten Randalierern und friedlichen
Protestierern. Zwar protestiert dort eine sehr heterogene Gruppe,
doch es zeigt sich, dass nicht die Ärmsten der Armen auf die Straße
gehen, sondern vielmehr Angehörige der Mittelschicht. Und diese wuchs
in den letzten Jahren in Folge der Programme zur Bekämpfung der Armut
und der sozialen Ungleichheit. Und diese Mittelschicht macht nun
Interessen geltend, die nicht rein materialistischer Natur sind. Es
geht nicht um den Ausbau von Sozialprogrammen oder die Steigerung der
Kaufkraft, sondern um bessere Bildung, die Aufhebung einer
Zwei-Klassen-Medizin, ein funktionierendes Transportwesen und die
Bekämpfung der Korruption.
Was unterscheidet die Proteste in Brasilien von jenen in den
arabischen Staaten oder der Türkei?
Dr. Zilla: Vieles. Im Vergleich zu den arabischen Staaten und auch
der Türkei ist Brasilien eine Demokratie und ein Rechtsstaat besserer
Qualität. Zwar gibt es noch Defizite, auf die sich auch die
Forderungen der Demonstranten beziehen. Aber dass Brasilien in dieser
Hinsicht weiter ist als die Staaten, die einen „Frühling der Revolte“
erlebten, zeigt sich auch an der Reaktion der Regierenden. Die
Präsidentin Dilma Rousseff reagierte nicht autoritär wie Erdogan,
sondern verständnisvoll. Sie nahm die Forderungen ernst, sie nahm sie
auf.
Wann hat sich so viel sozialer Sprengstoff in Brasilien
aufgehäuft? Ist das noch ein Erbe aus der Zeit als Kolonie oder
Militärdiktatur?
Dr. Zilla: Die soziale Ungleichheit ist eine historische. Ohnehin
ist Südamerika der Subkontinent mit der größten sozialen Ungleichheit
in der Welt. Und sogar in diesem Kontext war Brasilien stets das Land
mit der am stärksten ausgeprägten sozialen Ungleichheit. Allerdings
konnte der Trend im vergangenen Jahrzehnt umgekehrt werden. Noch in
den neunziger Jahren ging das Wirtschaftswachstum mit einer
Steigerung der sozialen Ungleichheit einher. Doch ab 2003 wurde das
Wachstum genutzt, um Armut und Ungleichheit zu verringern. Und dies,
obwohl die brasilianischen Wachstumsraten unterhalb der
durchschnittlichen südamerikanischen Rate lagen. Es gibt also eine
historisch bedingte, strukturelle Ungleichheit, die aber im
vergangenen Jahrzehnt so stark abgebaut wurde wie in keinem anderen
lateinamerikanischen Land. Gleichwohl ist sie immer noch viel zu
hoch.
Ist diese Verringerung der sozialen Kluft ein Verdienst der
Regierung Lula da Silva?
Dr. Zilla: Das ist ein Verdienst von da Silva, von Rousseff und
dem immer vergessenen ExRegierungschef Fernando Henrique Cardoso. Der
positive Trend setzte mit der Einführung des Real 1994 ein. Das
sorgte für wirtschaftliche Stabilisierung und Fiskaldisziplin.
Negative Effekte, die diese von IWF und Weltbank durchgesetzten
Strukturreformmaßnahmen in anderen lateinamerikanischen Ländern
hatten, blieben in Brasilien weitgehend aus. Die Erhöhung der
Staatseinnahmen seit Ende der neunziger Jahre setzte Brasilien dann
in den Stand, mit aktiver Sozialpolitik die Armut zu verringern. Über
dieses Geld konnte Brasilien aber nur verfügen dank
wirtschaftspolitischer Entscheidungen, die in der Amtszeit Cardoso
wurzelten.
Gefährdet der soziale Sprengstoff den weiteren Aufstieg
Brasiliens?
Dr. Zilla: Versteht man unter Aufstieg Brasiliens immer aktivere
Rolle auf internationalem Parkett, schaden anhaltende Proteste dem
Image Brasiliens, eine Demokratie zu sein, die Wachstum damit
verband, die Schwächsten mitzunehmen und in der sozialer Friede
herrscht. Nicht zuletzt, weil die Regierung Lula Großereignisse wie
die Fußball-Weltmeisterschaft und die Olympischen Spiele ins Land
holen konnte, wurde Brasilien zu einer positiven Marke. In dieser
Hinsicht hat Brasilien an Renommee eingebüßt. Versteht man unter
Aufstieg aber den Sprung vom Schwellenland zu einem Industrieland,
das nachhaltige Entwicklung, sozialen Frieden, Rechtsstaat und
Demokratie gewährleistet, bedarf es struktureller Reformen —
unabhängig davon, ob die Menschen demonstrieren oder nicht. In diesem
Sinne haben die Demonstrationen öffentlichkeitswirksam auf Defizite
hingewiesen und die Regierung unter Handlungsdruck gesetzt. So hat
das Steuersystem Brasiliens keinen Umverteilungseffekt. Ein Manko,
das durch die Sozialprogramme ausgeglichen werden soll. Diese
erweitern aber nur den Kreis derjenigen, die staatliche Angebote in
Anspruch nehmen können, erhöhen aber nicht die Qualität dieser
Angebote.
Strukturelle Reformen hat Präsidentin Rousseff angekündigt, will
gegen Korruption vorgehen und in Bildung sowie öffentlichen
Nahverkehr investieren. Wird sich die Wut steigern, wenn schnelle
Erfolge wie zu erwarten, ausbleiben?
Dr. Zilla: Das ist schwierig einzuschätzen. Weil die Demonstranten
keine organisierten Gruppen mit Führern sind, die Forderungen an
Zeithorizonte knüpfen könnten.
Ist angesichts derart unorganisierten Protests eher zu erwarten,
dass die Fußball-WM im fußballverrückten Land sämtliche Missstände in
den Hintergrund drängt?
Dr. Zilla: Ja und Nein. Ja, weil die Weltmeisterschaft die
Aufmerksamkeit auf das sportliche Event zieht. Nein, weil natürlich
genau so eine Veranstaltung die geeignete Bühne für Proteste ist, die
ein weltweites Echo erhalten sollen. Ähnliches erleben wir ja zur
Zeit beim Confederations Cup.
Brasilien betont als Gastgeber von UN-Umweltgipfel, Confed-Cup und
Fußball-WM seinen Anspruch als regionale Vormacht. Verweigern die
Bürger die Gefolgschaft auf diesem Kurs, solange im Innern
Korruption, marodes Bildungssystem etc. nicht behoben sind?
Dr. Zilla: Weder in Europa noch in Lateinamerika hat man je mit
Außenpolitik Wahlen gewonnen. Nur in ganz besonderen Konstellationen,
etwa einem Krieg, erhält Außenpolitik eine innenpolitische Relevanz.
Das gestiegene Ansehen Brasiliens in der Welt kann innenpolitische
Versäumnisse nicht kompensieren. Zudem ist nicht wirklich wichtig, ob
die Bevölkerung dem außenpolitischen Kurs folgt oder nicht. Trotz
vergrößerter Einflussmöglichkeiten der Zivilgesellschaft bleibt die
Außenpolitik ein Feld der Eliten.
Aber hier wird Außenpolitik doch greifbar: Milliarden Real werden
in Stadien investiert statt in Buslinien…
Dr. Zilla: … Ja, aber die Bürgerinnen und Bürger ordnen dies
nicht unter Außenpolitik ein. Sie bemängeln eher eine falsche
Prioritätensetzung der Regierung. Zorn ruft etwa hervor, dass in
Bezug auf die Fußball-WM lange gesagt worden war, die Investitionen
würden von privater Hand erfolgen, und nun muss doch der Staat
eingreifen.
Wie groß sind die Chancen von Präsidentin Rousseff, die
angekündigte Radikalreform gegen die um ihre Privilegien bangenden
Angehörigen des Kongresses durchzusetzen?
Dr. Zilla: Einerseits groß, weil die Präsidentin sehr hohe
Zustimmungswerte und ein sehr gutes Image hat. Selbst, wenn die
Bürger und Bürgerinnen Korruption beklagen, nehmen sie die
Präsidentin aus. Man nimmt auch eher ihr als Lula ab, von
Durchstechereien nichts gewusst zu haben. Viele Mitglieder der
Zivilgesellschaft und der politischen Elite wollten gar nicht so
genau wissen, ob Präsident Lula korrupt ist oder nicht. So
beschränkte man sich darauf, Korruption ein Stockwerk tiefer zu
bekämpfen. Nicht nur, dass Dilma Rousseff in dieser Hinsicht
unverdächtig wirkt, sie gilt auch als durchsetzungsfähige
Technokratin. Das steigert die Chancen einer tiefgreifenden Reform.
Dagegen spricht allerdings, dass Brasilien nie von einer Partei
allein regiert wurde, sondern immer von breiten Koalitionen. Diese
sind nur stabil, wenn Konzessionen an viele verschiedene Gruppen
gemacht werden. Das führt zu einem Reformstau. Die Chancen einer
Reform mindert auch, dass Korruption in Brasilien nicht
ausschließlich ein Problem der Politik, sondern der Gesellschaft ist.
Korruption ist Teil der politischen Kultur. Und viele, die jetzt
gegen bestechliche Politiker demonstrieren, weil es da um große
Geldsummen geht, bestechen im Alltag den Polizisten, wenn sie als
Falschparker erwischt wurden. Man kann ein gesellschaftliches
Phänomen nicht über einen lediglich aus der Politik kommenden Impuls
verändern. Noch dazu, wenn dieser Impuls, wie bei dem von Dilma
Rousseff vorgeschlagenen Fünf-Punkte-Pakt recht schwammig ist.
Konkret ist lediglich die Angabe, dass Royalties, also die Abgaben
der Erdölkonzerne an den Staat, in die Verbesserung des
Bildungssystems fließen sollen. Die angekündigte Verfassungsreform
hat dagegen derzeit noch keine Konturen.
Wie groß ist die Gefahr, dass Reformstau und schwammige
Reformziele Rechtspopulisten in die Karten spielen?
Dr. Zilla: Die Gefahr, dass sich jemand zum vermeintlichen Retter
aufschwingt, ist eher gering. In Brasilien fehlt im Gegensatz zu
anderen lateinamerikanischen Ländern dafür der Nährboden.
Erlebt Brasilien einen Crashkurs in Debattenkultur, der einer
weitergehenden Demokratisierung den Weg ebnet?
Dr. Zilla: Es ist nicht auszuschließen, dass die Proteste einen
positiven Impuls auslösen. International ist die Lesart dieser
Proteste überwiegend negativ, sofern sie mit dem Arabischen Frühling
gleichgesetzt werden. Dennoch ist ein Demokratisierungseffekt
denkbar. Die Brasilianerinnen und Brasilianer waren selbst
überrascht, wie mobilisiert sich ihre Gesellschaft zeigte. Die
brasilianische Zivilgesellschaft ist ohnehin stärker organisiert als
die meisten ihrer Nachbarn. Unüblich ist nur die Inbesitznahme der
Straße. Das erhöht den Druck auf die Eliten. Deshalb wird davon
gesprochen, dass der Riese endgültig erwacht sei.
Das Interview führte Joachim Zießler
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