Mit Waffenlieferungen an die syrischen Rebellen 
bewegt sich der Westen zumindest in einer Grauzone, meint der in 
Glasgow lehrende Völkerrechtler Prof. Dr. Christian J. Tams. 
Asymmetrische Kriege und neue Waffentechnologie erzwängen zwar den 
Wandel des Völkerrechtes, hebeln es aber nicht aus. Prof. Tams: „Man 
kommt ohne das Völkerrecht nicht aus.“
   Waffenlieferungen an Aufständische in einem Bürgerkrieg sind laut 
Völkerrecht illegal. Bricht der Westen in Syrien das Recht?
   #Prof. Tams:# Die Waffenlieferungen, die die EU nach einem 
Beschluss von Ende Mai in den Blick nimmt, sind völkerrechtlich 
heikel. Die EU bewegt sich hier in einer Grauzone. Das Völkerrecht 
geht vom Grundsatz aus, dass in einem Bürgerkrieg, wie er in Syrien 
stattfindet, Rebellen nicht vom Ausland mit Waffen unterstützt werden
dürfen. Anderenfalls können das Verbot der Einmischung in die inneren
Angelegenheiten und das Gewaltverbot verletzt werden. Einige 
EU-Staaten, etwa Österreich, haben darauf hingewiesen, wie heikel 
entsprechende Pläne ohne die notwendige Erlaubnis des 
UN-Sicherheitsrates sind. Andererseits ist das Völkerrecht nicht 
blind gegenüber Menschenrechtsverletzungen, die möglicherweise durch 
Waffenlieferungen unterbunden werden können. Darauf weisen Staaten 
wie Großbritannien hin.
   Ist der Westen doppelzüngig, wenn er Moskau die Aufrüstung Syriens
vorwirft? #Prof. Tams:# Die Befürworter von Waffenlieferungen würden 
eher von ausgleichender (Un-)Gerechtigkeit sprechen. Doppelzüngig 
würde ich das nicht nennen. Aber der Versuch, einen Ausgleich 
herzustellen, leidet darunter, dass das traditionelle Völkerrecht die
Unterstützung von Rebellen untersagt, die Unterstützung von 
Regierungen dagegen zugelassen hat. Diese Unterscheidung mag sich 
aufweichen. Und festzuhalten bleibt, dass Waffenlieferungen an beide 
Seiten den Konflikt anheizen.
   Deckt das Völkerrecht Sanktionen gegen den Iran, der nach eigener 
Aussage lediglich ein – erlaubtes – ziviles Atomprogramm verfolgt?
   #Prof. Tams:# Diese Sanktionen sind – von einzelnen Ausnahmen 
abgesehen – weniger problematisch als etwa Waffenlieferungen an 
Rebellen in Syrien. Es handelt sich im Wesentlichen um das Einfrieren
von Konten, Reiseverbote gegen Mitglieder des Regimes sowie ein 
Handelsembargo. Der Unterschied zu Syrien ist ein deutlicher, auch 
wenn er technisch erscheint: Sanktionen gegen Teheran sind seit 2006 
vom UN-Sicherheitsrat angeordnet worden – auf Anraten der 
Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO). Die IAEO ist dafür 
zuständig, die Einhaltung des Atomwaffensperrvertrages zu überprüfen.
Und Teheran hat zumindest die Pflichten zur Zusammenarbeit mit der 
IAEO und zur Transparenz verletzt. Dies hat die IAEO festgestellt, 
und daraufhin hat der Sicherheitsrat das Verhalten des Irans als 
Bedrohung des Weltfriedens klassifiziert und Sanktionen angeordnet. 
Das macht völkerrechtlich einen wichtigen Unterschied.
   Werden Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates entwertet, wenn sie von 
Staaten als Legitimation zu weitergehenden Aktionen missbraucht 
werden?
   #Prof. Tams:# Das ist ein generelles Problem, aber ich sehe keine 
Entwertung. Im Iran, in Libyen, aber auch im Kosovo sah der 
Sicherheitsrat den Weltfrieden als bedroht an. Darauf haben sich 
einzelne Staaten berufen, um teilweise weitergehende Maßnahmen 
durchzusetzen, die der Sicherheitsrat nicht angeordnet hatte – oder 
bei denen es zumindest umstritten war. Das Paradebeispiel ist Libyen.
2011 hat der Sicherheitsrat auch militärische Maßnahmen zum Schutz 
der Zivilbevölkerung zugelassen. Nach Ansicht etwa Russlands haben 
westliche Staaten diese Ermächtigung überdehnt, indem sie – als 
Haupt- oder Nebenziel – einen Regimewechsel herbeigeführt haben. 
Nachfolgende Resolutionen hat der Sicherheitsrat nun vorsichtiger 
formuliert. Diese Reaktion kann man nachvollziehen. Aber dass 
Resolutionen des Sicherheitsrates ausgelegt werden müssen, lässt sich
nicht vermeiden – will man den Sicherheitsrat nicht ganz aus dem 
Prozess heraushalten.
   Das Jugoslawien-Tribunal soll den Rechtsfrieden nach dem 
Balkan-Krieg wiederherstellen. Zeugt das Heranrücken der 
Balkanstaaten an die EU vom Erfolg dieser Rechtsinstanz der UNO? 
#Prof. Tams:# Das Jugoslawien-Tribunal ist eine faszinierende 
Institution, die das Völkerstrafrecht seit den 1990er-Jahren mit 
Leben erfüllt. Doch ihm das Heranrücken der Balkan-Staaten an Europa 
zuzurechnen, wäre wohl eine zu positive Lesart. Ich vermute eher, 
dass Serbien und Kroatien sich mit dem Jugoslawien-Tribunal 
abgefunden haben, um näher an die EU heranzurücken. Angesichts der 
immer noch mächtigen ethnisch-kulturellen Trennlinien zwischen den 
einstigen Kriegsgegnern kann man nur hoffen, dass das Tribunal die 
Grundlagen für eine spätere Versöhnung gelegt hat.
   Bedarf das Völkerrecht mit seiner klaren Unterscheidung zwischen 
Zivilisten und Kombattanten angesichts der steigenden Zahl 
asymmetrischer Konflikte einer Überarbeitung?
   #Prof. Tams:# Der Anpassung bedarf es bestimmt, aber diese ist ein
stetiger Prozess. Unrealistisch ist es, zu erwarten, dass man hier 
zügig zu einer klaren neuen Regelung kommt – einfach, weil die 
Probleme tatsächlich schwer zu lösen sind: wer etwa ist Kombattant, 
wer Kämpfer in Konflikten zwischen Rebellen und Armeen? Das 
Internationale Rote Kreuz hat jüngst eine Studie zur unmittelbaren 
Teilnahme an Kampfhandlungen vorgelegt, die bei der Abgrenzung in 
asymmetrischen Konflikten helfen kann.
   Beim ersten deutschen Staatsbürger, der durch einen Drohnenangriff
getötet wurde, ermittelte die Bundesanwaltschaft drei Jahre lang, ob 
er als Kämpfer oder als Zivilist im pakistanisch-afghanischen 
Grenzgebiet unterwegs war. Werden die Grauzonen zu groß?
   #Prof. Tams:# Die Gefahr, dass Zivilisten zu leichtfertig zu 
Kämpfern deklariert werden, besteht. Aber es gibt keine Alternative 
dazu, in jedem Einzelfall oft nur anhand vager Kriterien zu 
entscheiden. Das ist der Grund, warum asymmetrische Konflikte, neben 
moderner Waffentechnologie, eine der großen Herausforderungen für das
humanitäre Völkerrecht sind.
   Bedarf das Völkerrecht der Ergänzung angesichts zunehmender 
Mechanisierung des Krieges durch Drohnen und Kampfroboter, die 
theoretisch mit Software versehen werden kann, die autonom 
entscheidet, wer getötet wird und wer nicht?
   #Prof Tams:# Was Drohnen angeht, ist es wohl schon zu spät, 
rechtliche Verbote einzuführen. Hier muss man die bestehenden Regeln,
so gut es geht, anwenden. Bei Kampf-Robotern könnte man etwa an einen
völkerrechtlichen Vertrag denken, durch den sich Staaten auf ein 
Moratorium oder ein Verbot verpflichten. Die Vorstellung, zentrale 
Entscheidungen – etwa die Unterscheidung zwischen Zivilisten und 
Kombattanten – könnten auf Roboter verlagert werden, ist ja 
beängstigend. Politische Kampagnen zur Ächtung von Kampfrobotern 
haben begonnen, aber ein völkerrechtlicher Vertrag muss 
schlussendlich von Staaten ausverhandelt und abgeschlossen werden. 
Allzu viel Hoffnung auf ein umfassendes Verbot habe ich nicht.
   Vattenfall wehrt sich in einem internationalen Schiedsverfahren 
gegen den Atomausstieg. Bei einem Kohlekraftwerk hatte der Konzern 
zumindest einen Teilerfolg erzielt. Höhlt internationales Recht 
nationale Souveränität aus?
   #Prof. Tams:# Das ist eine Frage der Perspektive. In der Tat kam 
es im Falle des Kohlekraftwerkes Moorburg vor einem internationalen 
Investitionsschiedsgericht zu einem Vergleich, nachdem Vattenfall vor
deutschen Gerichten unterlegen war. Ist das problematisch? Als 
Völkerrechtler antworte ich: So ist es im Investitionsrecht angelegt.
Deutschland hat mit 130 Staaten bilaterale Verträge über 
Investitionsschutz geschlossen – und dabei über 50 Jahre wohl 
weitgehend deutsche Investoren im Blick gehabt, die im Ausland gegen 
Willkür geschützt werden sollten. Dass jetzt ausländische Investoren 
gegen Deutschland klagen, zeigt, dass Investitionsschutzrecht keine 
Einbahnstraße ist: das Pendel schlägt zurück. Das ist als solches 
auch nicht problematisch. Zu klären bleibt, ob das 
Investitionsschutzrecht etwa Umweltschutz zu klein schreibt. Wer dies
denkt, muss (und kann) in zukünftigen Investitionsschutzverträgen 
Umweltaspekte stärker betonen. Es geht aber beim jetzigen 
Vattenfall-Verfahren nicht um den Atomausstieg oder Umweltschutz als 
solchen, sondern um das Hin und Her, um fehlende Transparenz beim 
Regierungshandeln.
   Seit 1986 ist der kommerzielle Walfang verboten. Japan hängte ihm 
daraufhin das Tarnmäntelchen „wissenschaftliche Gründe“ um. Versagt 
das Völkerrecht beim Schutz von Allgemeingut?
   #Prof. Tams:# Das Völkerrecht bildet ab, dass nicht die ganze 
internationale Gemeinschaft den Schutz der Wale als Allgemeingut 
bewertet. Japan ist zwar bisher damit gescheitert, das Verbot des 
kommerziellen Walfangs aufzuweichen. Aber dass Wale zu 
wissenschaftlichen Zwecken gejagt werden dürfen, ist allgemein 
anerkannt. Jetzt muss der Internationale Gerichtshof klären, ob Japan
diese Ausnahme überdehnt hat. Dass dies in einem Gerichtsverfahren 
auf Grundlage des Rechts geschieht, ist doch zu begrüßen.
   Welche Chancen bestehen, den zu erwartenden Wettlauf um die 
Ressourcen unter dem schmelzenden arktischen Meereis durch Verträge 
zu regeln? #Prof. Tams:# Es gibt durchaus Chancen. Denn alle Staaten 
sind sich einig, dass das UN-Seerechtsabkommen von 1982 die 
Spielregeln des „Wettlaufs“ bestimmt. Es regelt, wann und in welchem 
Verfahren Staaten Ansprüche geltend machen können. Auch bietet der 
Arktische Rat einen institutionellen Rahmen. Mit Wettläufen um 
Kolonien des 19. Jahrhunderts ist dies alles nicht zu vergleichen. 
Trotz aller politischen Leidenschaften in dieser Frage sind die 
Chancen einer Verständigung groß.
   Schottland diskutiert gerade leidenschaftlich, seine 
Erdölmillionen lieber selbst auszugeben, statt sie nach London zu 
transferieren. Zerstört das Selbstbestimmungsrecht der Völker alte 
Nationalstaaten?
   #Prof. Tams:# Es gibt immer wieder Bestrebungen, Nationalstaaten 
aufzubrechen, ob in Schottland, Katalonien oder Quebec. Die Debatte 
in Schottland ist weit vorangeschritten, weil die Schotten im 
September 2014 in einem Referendum über ihre Unabhängigkeit abstimmen
werden. Aus schottischer Sicht handelt es sich hierbei aber nicht um 
die Zerstörung eines Nationalstaates, sondern um die Rückkehr zum 
schottischen Staat, den es bis 1707 gab. Generell gilt: Staaten sind 
kein Selbstzweck. Entscheidend ist, wie um Unabhängigkeit gerungen 
wird. Und in dieser Hinsicht ist der schottische Prozess 
mustergültig: es gibt ein Referendum; der Rest Großbritanniens wird 
das Ergebnis respektieren; gewaltsame Lösungen werden ausgeschlossen.
Das ist – unabhängig vom Ausgang – ein Lehrstück zur vernünftigen 
Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes.
   Spielt der Sicherheitsrat nicht mit, führen die Jagd nach 
imaginären Chemiewaffen oder Flugverbotszonen zum angestrebten Ziel. 
Ist der Traum von 1919, von einer zivilisierenden und pazifizierenden
Wirkung des Völkerrechts ausgeträumt?
   #Prof. Tams:# Der Traum ist alles andere als ausgeträumt. Das 
Völkerrecht ist nicht perfekt. Manchmal ist es zynisch, manchmal 
hilft es weniger, als wir es uns wünschen. Aber die Frage ist doch: 
Leistet es einen positiven Beitrag, hilft es uns, auf eine gerechtere
Welt hinzuarbeiten? Und andersherum gewendet: Was, wenn nicht das 
Völkerrecht, kann denn Grundlage sein für eine gerechte Ordnung der 
Welt? Wollen wir auf die Wirkung des Rechtes verzichten, Konflikte zu
schlichten? Man kommt ohne das Völkerrecht nicht aus. Wir dürfen es 
nicht mit Hoffnungen überfrachten. Aber wir tun gut daran, mit ihm 
und an ihm zu arbeiten.
Das Interview führte Joachim Zießler
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