Landeszeitung Lüneburg: Die Wut bricht sich Bahn Iran-Expertin Azadeh Zamirirad: Auch die Angst vor dem Zerfall des Staates wie in Libyen schützt das System der Mullahs

Von Joachim Zießler

Sind die Unruhen eine Neuauflage des „grünen“ Aufbegehrens von
2009? Azadeh Zamirirad: Es gibt eine Reihe von Unterschieden zu
damals, als Hunderttausende demonstriert haben. Diesmal sind die
Unruhen von der Peripherie des Landes ausgegangen, wo zunächst nur
einige Dutzend Menschen aufgrund von Arbeitslosigkeit und hohen
Lebenshaltungskosten protestiert haben. Mittlerweile sind Tausende
auf den Straßen, mit sehr unterschiedlichen Anliegen. Die Proteste
verlaufen dezentral und konzentrieren sich nicht so stark nur auf
Teheran. Selbst wenn sie in Teheran abebben sollten, können sie in
anderen Teilen des Landes weiter an Fahrt gewinnen. Anders als damals
gibt es auch noch keine Identifikationsfiguren, hinter denen sich die
Demonstranten scharen und auch keine gemeinsame Plattform.

Die Regierung ließ soziale Medien sperren. Hat sie ihre Lehren aus
dem Arabischen Frühling gezogen, als diese die Rebellion anheizten?
Zamirirad: Die Lehren hat sie schon 2009 gezogen, als Medien wie
Facebook oder Twitter genutzt wurden, um Proteste zu koordinieren.
Die Regierung ist immer wieder gegen solche Medien vorgegangen, hat
Dienste sperren lassen oder die Internetverbindung gedrosselt. Die
iranische Bevölkerung ist aber so etwas wie ein digitaler Nomade. Man
ist massenhaft von einem Dienst zum anderen gewandert. Heute wird vor
allem Telegram genutzt. Bis zu 40 Millionen Iraner sollen diese App
nutzen, das wäre jede zweite Person im Land. Deshalb wird dieser
Dienst derzeit auch vom Staat blockiert.

Ist hier eine Bürgerbewegung quer durch alle Schichten entstanden?
Zamirirad: Bürgerbewegungen gibt es in Iran schon lange. Das Land hat
eine lebendige Zivilgesellschaft, eine starke Frauenbewegung und
selbstbewusste Aktivisten in der Studentenschaft. Das Besondere an
der neuen Protestwelle gegenüber 2009 ist eher das Zerfaserte, die
fehlende hierarchische Gliederung. Und die Proteste gehen dabei
tatsächlich quer durch verschiedene Gesellschaftsschichten. Der
gemeinsame Nenner ist bisher lediglich die Unzufriedenheit mit dem
Status Quo. So etwas wie eine neue gemeinschaftliche Bewegung ist
noch nicht in Sicht.

Der Internationale Währungsfonds erwartet ein Wachstum von 4,2
Prozent. Erreicht der Aufschwung die Massen? Zamirirad: Nein, die
Massen wird er auch 2018 nicht erreichen. Das bisherige positive
Wirtschaftswachstum Irans ist vor allem auf den Ölsektor
zurückzuführen ist, der von der Aufhebung der Energiesanktionen
profitiert hat. Das ist aber kein Bereich, in dem massenhaft neue
Arbeitsplätze entstehen. Dazu müsste schon der Nichtölsektor deutlich
wachsen. Selbst mit den 840000 Stellen, die Ruhani für das folgende
iranische Kalenderjahr in Aussicht gestellt hat, wäre noch nicht mal
der Bedarf von denen gedeckt, die jedes Jahr zusätzlich auf den
iranischen Arbeitsmarkt strömen – das heißt, die Arbeitslosenrate
wird noch weiter steigen.

Ist die Unzufriedenheit über Armut und fehlende Perspektiven ein
Hebel für Ruhanis konservative Gegner? Zamirirad: Die wirtschaftliche
Not wird von den Konservativen immer wieder genutzt. Sie versuchen,
auf dieser Basis regelmäßig, Stimmung gegen die Regierung zu machen.
Bei den Präsidentschaftswahlen waren sie damit aber nicht sehr
erfolgreich. Obwohl in Umfragen eine Mehrheit Rohani gar keine hohe
wirtschaftliche Kompetenz zugesprochen hat, wurde er dennoch gewählt.
Seinen Herausforderern hat man die realitätsfernen Versprechungen
nach Millionen von Arbeitsplätzen nicht abgekauft. Aber auch wenn die
momentane Kritik an der Regierung von vielen Konservativen begrüßt
wird, können sie kein Interesse an flächendeckenden Protesten haben,
die am Ende nicht nur die Regierung, sondern auch das System
gefährden könnten.

Kann es sein, dass der große Rivale Saudi-Arabien die Unruhen
schürt, wie Teheran behauptet? Zamirirad: Es ist ein gängiges
Reaktionsmuster in Teheran und Riad, sich gegenseitig Einmischung zu
unterstellen. Iran wirft Saudi-Arabien schon seit Jahren vor, im
südöstlichen Grenzgebiet zu Pakistan belutschische Separatisten zu
unterstützen, um Unruhen zu schüren. Die derzeitigen Proteste sind
aber nicht vom Süden ausgegangen, sondern vom Nordosten. Letztlich
ist aber auch die Frage, von wo die Initialzündung ausging,
nachrangig. Entscheidend ist, dass diese anfänglichen Proteste
landesweit auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Das wäre nicht
möglich, wenn es nicht flächendeckend so viel Unmut geben würde.

Wie tief sitzt die Frustration, dass nach 2009 die durch den Krieg
mit dem Irak gehärtete Generation die theokratisch-autoritären
Strukturen stärkte, Reformvorhaben dagegen oft versandeten?
Zamirirad: Der Frust ist sehr groß, bricht sich aber nicht zum ersten
Mal Bahn. Ernüchterung gab es schon zur Zeit des Reformerpräsidenten
Mohammad Chatami, der vor allem von jungen Menschen, darunter viele
Frauen, gewählt worden war, aber letztlich nur sehr wenig für sie
bewegt hat. Mit der Grünen Bewegung von 2009 gab es eine neue
Aufbruchsstimmung. Dass sie zerschlagen wurde und keine radikalen
Änderungen mit sich gebracht hat, war für viele ein herber
Rückschlag. Heute hören wir von vielen Demonstranten, dass 2009 für
sie kein Vorbild ist. Sie sehen sich nicht in der Tradition der
damaligen Proteste.

Vor wenigen Tagen teilte Teheran mit, dass Frauen, die die
islamische Kleiderordnung nicht befolgen, künftig nicht mehr
inhaftiert, sondern belehrt würden. Sind die Prinzipien des
Gottesstaates nie in den Köpfen der normalen Bürger angekommen?
Zamirirad: Man hat in den vergangenen Jahrzehnten auf den Straßen
verschiedener Metropolen – in Teheran oder Isfahan – gesehen, dass
viele junge Frauen diese Kleidervorschriften als Element einer
solchen Gesellschaftsordnung nicht akzeptieren. Mittlerweile sehen
Sie Frauen teilweise auch ganz ohne Kopftuch im Auto sitzen. Viele
der Anforderungen des iranischen Staates an seine Bürger sind immer
wieder ins Leere gelaufen. Das ist bei der heutigen Generation nicht
anders. Dass es keine rechtlichen Konsequenzen mehr haben soll, wenn
man gegen die strikte Kleiderordnung verstößt, ist eine Folge dieser
Entwicklungen.

Erstmals wurde auch der Tod Chameneis gefordert, seine Bilder
verbrannt. Hat er noch die Autorität, seinen Nachfolger zu bestimmen?
Zamirirad: Formal bestimmt der Revolutionsführer nicht selbst seinen
Nachfolger. Für die Wahl ist der so genannte Expertenrat zuständig.
Aber es ist davon auszugehen, dass Khamenei eine wesentliche Rolle in
diesem Entscheidungsprozess spielen will. Noch sind wir nicht an dem
Punkt, an dem er zu geschwächt wäre, um Einfluss ausüben zu können.
Generell verfügt er aber nicht über die religiöse Autorität und
machtpolitische Stellung seines Vorgängers Ayatollah Chomenei.
Inwieweit er das Erbe dieser Revolution weiter mitprägen kann, hängt
auch davon ab, wie er als oberste herrschaftspolitische Instanz mit
dieser Krisensituation umgehen wird.

Bisher schweigt Europa überwiegend. Was könnte es tun, um die
Zivilgesellschaft im Iran zu stützen? Zamirirad: Auf lange Sicht ist
vor allem der gesellschaftliche Austausch zwischen Iran und
europäischen Staaten wichtig. Hierzu braucht es bilaterale
Kulturabkommen, die Förderung von Hochpartnerschaften und
erleichterte Visa-Verfahren. Aber mit Blick auf die derzeitigen
Ereignisse muss es zunächst vor allem darum gehen, klar Position
gegen jegliche Form von Gewalt gegen friedliche Demonstranten zu
beziehen. Hunderte Menschen wurden bislang verhaftet. Diese Menschen
dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren. Es muss ein dringliches
Anliegen der EU sein, ihren Verbleib und die Verfahren, die gegen sie
eröffnet werden, nicht nur genau zu verfolgen, sondern auch zum
festen Gegenstand bei allen künftigen Treffen mit iranischen
Entscheidungsträgern zu machen.

Der Aufstand gegen den Schah war auch stark eine Jugendrevolte.
Besteht die Möglichkeit, dass die islamische Revolution von ihren
säkularen Kindern oder Enkeln gefressen wird? Zamirirad: Es wäre
nicht das erste Mal, dass Proteste in Iran einen unerwarteten Ausgang
nehmen. Aber noch sind die Demonstrationen nicht systemgefährdend.
Die wesentlichen Machtzentren des Staates scheinen intakt und sein
Gewaltmonopol ist ungebrochen. Dieses Monopol wird nicht nur von
Polizei und Armee aufrechterhalten, sondern auch von Paramilitärs und
Freiwilligenmilizen. Die Situation könnte sich natürlich ändern,
beispielsweise wenn es Unterstützung aus Teilen der bewaffneten
Kräfte oder wesentlicher Machtzentren gäbe. Nicht wenige fürchten
sich allerdings auch davor, dass bei weiteren Eskalationen Iran einst
so enden könnte wie Libyen.   

Zur Person

Azadeh Zamirirad ist Wissenschaftlerin bei der Stiftung
Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Sie ist dort in der
Forschungsgruppe Naher/ Mittlerer Osten und Afrika. Der Iran und die
Atomverhandlungen sind dabei unter anderem ihr Forschungsschwerpunkt.
Sie lehrte auch an der Uni Potsdam

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