Mit Spannung haben nicht nur die Grünen in 
Baden-Württemberg auf den Volksentscheid zum Hauptbahnhof Stuttgart 
21 geschaut – und eine klare Niederlage erlitten. Ist das Bürgervotum
ein Gewinn für die Demokratie? Der Stuttgarter Politologe Prof. Dr. 
Frank Brettschneider sieht in Formen der direkten Demokratie kein 
Allheilmittel, fordert stattdessen eine Stärkung der repräsentativen 
Demokratie.
   Die Bayern wurden zum Rauchverbot gefragt, die Hamburger zur 
Primarschule, die Berliner durften über das Pflichtfach Religion 
abstimmen, Baden-Württemberg über Stuttgart 21, gegen den 
Castor-Transport haben sich Zehntausende ungefragt zu Wort gemeldet –
mischen sich die Menschen mehr ein oder ist die mediale 
Aufmerksamkeit nur größer geworden?
   Prof. Dr. Frank Brettschneider: Beides ist der Fall. Einerseits 
ist die Aufmerksamkeit der Medien größer geworden – vor allem, wenn 
es zeitgleich zu mehreren Protestaktionen gegen unterschiedliche 
Vorhaben kommt. Deshalb war im vergangenen Jahr von „Wutbürgern“ die 
Rede und von der „Dagegen-Republik“. Aber es gibt auch eine 
Veränderung in der Gesellschaft, und das hat mehrere Gründe: Zum 
einen hat das punktuelle Interesse an Politik zugenommen. Wo das 
eigene Umfeld betroffen ist, steigt die Bereitschaft, selbst aktiv zu
werden. Und dies wird wiederum erleichtert durch technische 
Neuerungen. Die sogenannten „Sozialen Netzwerke“ wie Facebook 
ermöglichen es, sich viel schneller zu organisieren, als das noch vor
20 Jahren der Fall war. Eine Demonstration oder ein Treffen mit 
Experten auf die Beine zu stellen, ist kein großer Aufwand mehr.
Wächst damit auch das allgemeine Interesse an Politik?
   Brettschneider: Wenn man sich die Motive für die Bürgerproteste 
ansieht, ist das in der Regel eine Kombination mehrerer Gründe. 
Wichtig ist der sogenannte Nimby-Effekt (Not in my backyard/Nicht in 
meinem Garten), auch bekannt als Sankt-Florians-Prinzip. Bürger, die 
direkt von einem Bauprojekt betroffen sind, etwa von 
Windkraftanlagen, Stromleitungen oder einem Autobahnabschnitt, 
reagieren als erste, weil sie ihre Lebensqualität bedroht sehen. Das 
gab es aber schon immer. Dann gibt es eine zweite Gruppe von Gründen,
die auf der Sachebene von Projekten angesiedelt sind. Bei Stuttgart 
21 ist das etwa die Sorge um die Gefährdung des Mineralwassers. 
Drittens gibt es ein wachsendes Misstrauen gegenüber traditionellen 
Institutionen bis hin zur Politik auf der Bundesebene. Das heißt, 
einige Menschen trauen den Parlamenten nicht mehr zu, Probleme in 
ihrem Sinne zu lösen. Wichtig ist noch ein vierter Punkt, nämlich die
Art und Weise, wie sich Menschen durch Institutionen, etwa von 
Projektträgern, behandelt fühlen: Oft wird man von oben herab nur als
Störenfried wahrgenommen. Wenn alle diese Aspekte zusammenkommen, 
entsteht so etwas wie Stuttgart 21.
   Wird das Volk künftig also häufiger gefragt, wenn es nur laut 
genug ist?
   Brettschneider: Dies ist wohl eine der Lehren aus Stuttgart 21. 
Das war schon am Wahlabend zu spüren, als eine Debatte über die 
Absenkung des ungewöhnlich hohen Quorums in Baden-Württemberg begann.
Und nicht nur in Baden-Württemberg gibt es eine Diskussion über die 
Erleichterung von Bürgerbegehren, also der Möglichkeit, dass die 
Menschen auch selbst Gesetzesentwürfe einbringen können. Es ist 
durchaus eine gewisse Euphorie zu beobachten. Ich habe aber meine 
Zweifel, ob das die Lösung vieler Probleme ist. Ich glaube, in einer 
parlamentarischen Demokratie sind es die Volksvertretungen, die am 
besten geeignet sind, auch einen Interessenausgleich herzustellen. 
Wir haben es ja oft mit individuellen und zugleich gesellschaftlichen
Problemen zu tun, die schwer vereinbar sind: Einerseits möchte 
niemand gern einen Strommasten vor seiner Tür haben, andererseits 
müssen wir aber die Energiewende bewältigen. Im Übrigen beteiligt 
sich an Protesten und Volksabstimmungen häufig keine repräsentativer 
Querschnitt der gesamten Bevölkerung. Es sind die Menschen, die auch 
ohne direktdemokratische Verfahren Einfluss haben, die organisiert 
sind und sich Gehör verschaffen können. Diese Gruppe bekommt nun noch
ein Instrument mehr in die Hand. Ob das zu einem 
gesamtgesellschaftlichen Interessenausgleich führt, ist fraglich.
Die Parlamente sind auch kein Abbild der gesamten Gesellschaft…
   Brettschneider: Das stimmt. Aber die Parlamente sollten alle 
gesellschaftlichen Interessen artikulieren. Die Forderungen nach 
direkter Demokratie werden um so lauter, je schwächer die Parlamente 
wahrgenommen werden.
   Es ist oft zu lesen, die S21-Gegner hätten verloren, aber die 
Demokratie habe gewonnen. Ist der Volksentscheid in Baden-Württemberg
wegen der hohen Hürden und im Hinblick auf den Zeitpunkt nicht eher 
ein Beispiel dafür, wie man es nicht macht?
   Brettschneider: Das Ergebnis des Volksentscheides ist durchaus 
beeindruckend: Erstens haben sich viele Bürger beteiligt, nämlich 
landesweit gut 48 Prozent, in Stuttgart sogar fast 68 Prozent. In 
Stuttgart war das mehr als bei der Landtagswahl 2006. Zweitens ist 
dabei ein Ergebnis herausgekommen, das glasklar ist. Und dennoch war 
das auch ein holpriger Start in die direkte Demokratie. 
Bürgerbeteiligung hätte viel früher stattfinden müssen. Der 
Fragewortlaut war unglücklich. Und die Fronten waren bereits so 
verhärtet, dass die Volksabstimmung in der Sache kaum noch zu 
Meinungsänderungen geführt hat.
   In Hamburg und Bayern haben sich knapp 40 Prozent der Bürger 
beteiligt, in Berlin nur bei 29 Prozent. Von echter Legitimation ist 
man da zum Teil weit entfernt…
   Brettschneider: Richtig. Und das führt dann zu großen 
Interpretation darüber, was denn diejenigen gewollt haben, die sich 
nicht beteiligt haben. Deshalb gibt es ja auch das Quorum. Es soll 
eben keine hoch mobilisierte Minderheit von zehn Prozent der Bürger 
über die anderen 90 Prozent entscheiden können. Das Gegenargument ist
dann immer: Es kann ja jeder wählen gehen. Die Frage, wie 
qualifiziert die Mehrheiten sind, bleibt stets bestehen – wie bei 
manchen Parlamentswahlen mit geringer Beteiligung übrigens auch.
Wird die Zahl der Wutbürger grundsätzlich überschätzt?
   Brettschneider: Ja. Und da kommen tatsächlich auch die Medien mit 
ins Spiel. Die „Wutbürger“ schaffen Berichterstattungsanlässe, 
liefern immer neue Bilder, und sie gehen dabei immer professioneller 
vor. Das machen die Gegner eines Projektes natürlich intensiver als 
die Befürworter, die ja keine Notwenigkeit sehen, auf die Straße zu 
gehen – erst recht nicht, wenn es parlamentarische Beschlüsse gibt. 
Gefährlich ist, wenn der Öffentlichkeit der Eindruck vermittelt wird,
es sei eine große Zahl von Menschen gegen ein Vorhaben, während die 
Zahl der Befürworter untergeht. Zumal diejenigen, die auf die Straße 
gehen, damit meist auch einen moralischen Anspruch verbinden. In 
Stuttgart war häufig die Parole „Wir sind das Volk“ zu hören. Das hat
etwas Ausgrenzendes. Durch den Volksentscheid wurde deutlich, dass 
die Gegner von Stuttgart 21 nicht für „das Volk“ sprechen – sondern 
nur für einen Teil davon.
   In Umfragen hat sich die Mehrheit der Deutschen zuletzt gegen die 
Atomkraft ausgesprochen. Repräsentieren die Aktivisten im Wendland – 
anders als in Stuttgart – eine Mehrheit?
   Brettschneider: Ja, wahrscheinlich ist das so. Umfragen weisen 
darauf hin. Es gab übrigens auch Umfragen zu Stuttgart 21, die eine 
Mehrheit für den neuen Bahnhof ergeben haben. Aber die wurden von den
Gegnern angezweifelt.
   Kann man sagen, dass die Ergebnisse von Volksentscheiden eher 
konservativ, am Status quo orientiert  ausfallen und weniger den 
Wandel unterstützen?
   Brettschneider: Dort, war das häufig praktiziert wird, nämlich in 
der Schweiz und in Kalifornien, überwiegt in der Tat das Bewahrende. 
Deshalb wundere ich mich auch über die Hoffnungen derjenigen, die mit
Hilfe von Volksabstimmungen den großen Politikwechsel herbeiführen 
wollen.
   Dem Wunsch nach mehr Bürgerbeteiligung steht ein abnehmendes 
Engagement der Menschen in Gewerkschaften, Kirchen und Parteien 
gegenüber. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
   Brettschneider: Das ist wie bei den Sportvereinen: Viele Menschen 
gehen inzwischen lieber ins Fitness-Studio, weil Vereine genauso wie 
Verbände und Parteien ein kontinuierliches und themenübergreifendes 
Engagement erfordern, zum Beispiel die Organisation von 
Jahresversammlungen. Stattdessen lässt sich ein stärkeres punktuelles
Engagement beobachten, sobald eigene Interessen berührt sind. Die 
traditionellen Gruppenbindungen verlieren an Bedeutung – sie werden 
durch punktuelle Bindungen und Vernetzungen ersetzt.
   Es gibt Forderungen nach Volksentscheiden auch auf Bundesebene Wo 
sehen Sie die Grenzen und Gefahren zusätzlicher direkter Demokratie?
   Brettschneider: Auf Bundesebene sehe ich mehrere Nachteile. Viele 
Themen würden sich für Volksentscheide nicht eignen. Etwa wenn es um 
Verkehrsinfrastruktur oder um die Energieversorgung geht. Das sind 
überregionale Themen mit ganz unterschiedlichen Betroffenheiten. Wer 
soll denn dann überhaupt abstimmen? Zum Beispiel darüber, ob Gorleben
ein atomares Endlager werden soll. Die Menschen im Wendland oder in 
der gesamten Bundesrepublik? Auch in Baden-Württemberg war strittig, 
ob man nur die Stuttgarter fragt oder alle Menschen im Land. Bei 
einigen Grundsatzfragen sind Volksentscheide hingegen denkbar. Sie 
sind aber bestimmt kein Allheilmittel. Meines Erachtens sollten wir 
uns mehr Gedanken machen über die Stärkung der repräsentativen 
Demokratie machen – als über den Ausbau der direkten Demokratie. Wir 
brauchen beispielsweise lebendigere Parlamentsdebatten, die weniger 
durch vorgestanzte Phrasen geprägt sind.
Das Gespräch führte Klaus Bohlmann
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