Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in den
vergangenen Jahren immer wieder thematisiert worden. Doch passiert
ist bisher nichts oder nur wenig, die Kluft hat sich sogar noch
weiter vertieft. Auch vom derzeit laufenden Weltwirtschaftsforum in
Davos dürften keine Impulse ausgehen. Schließlich sind dort jene
Akteure vertreten, „die Verursacher der zu beklagenden Verhältnisse
sind“, betont der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Christoph
Butterwegge im Gespräch mit unserer Zeitung.
Das Weltwirtschaftsforum hatte sich einst zum Ziel gesetzt, den
„Zustand der Welt zu verbessern“. Kurz vor dem Start in Davos hatte
die Menschenrechtsorganisation Oxfam mitgeteilt, dass die Kluft
zwischen Arm und Reich sich noch weiter vertieft hat. Können von
Davos Impulse ausgehen, diese Ungleichverteilung abzumildern oder
sind die Interessen zu einseitig gelagert?
Prof. Dr. Christoph Butterwegge: Ich bezweifle, dass von Davos
derartige Impulse ausgehen werden. Denn hier trifft sich die Welt der
Reichen, der Großunternehmer und Spitzenmanager. Man wird zwar darauf
achten, dass sich soziale Konflikte nicht verschärfen. Aber die
soziale Ungleichheit zwischen Arm und Reich einzudämmen, müssen
andere in Angriff nehmen: Einmal die Betroffenen selbst, also von
Armut bedrohte Menschen, und auch Angehörige der Mittelschicht, die
befürchten müssen, zwischen Arm und Reich zerrieben zu werden. Darauf
setzte ich meine Hoffnung weit stärker als auf jene Akteure, die
Verursacher der zu beklagenden Verhältnisse sind.
Die UN-Mitgliedsstaaten verständigten sich 2000 auf acht Ziele für
das neue Jahrtausend. Laut UN ist es gelungen, die extreme Armut
weltweit zu halbieren. Widerspricht das nicht dem Oxfam-Bericht,
wonach 2016 nur ein Prozent der Menschen auf der Welt so reich ist
wie der gesamte Rest der Menschheit?
Prof. Butterwegge: Ich bezweifle, dass das Millenniumsziel einer
Halbierung der Armut erreicht worden ist. Es hat zwar eine
Verringerung der absoluten Armut in Schwellenländern wie Brasilien,
Indien und China gegeben. Aber ich sehe nicht, dass die sozialen
Gegensätze international und auch national eingeebnet worden sind. Es
gibt immer noch eine tiefe Kluft, die sich bei uns weiter vertieft:
Die Reichen werden reicher, die Armen zahlreicher. Oder, um ein
französisches Sprichwort zu bemühen: Der Teufel pinkelt immer in die
größten Pfützen. Reichtum vermehrt sich leichter als Wohlstand: Es
ist viel einfacher, aus 10 Millionen Euro 20 Millionen zu machen, als
aus 100 000 Euro 200 000.
Ist Armut in reichen Staaten wie Deutschland auch ein Stück weit
gewollt?
Prof. Butterwegge: Ja, denn Armut ist systemfunktional. Sie dient
als soziale Drohkulisse und als Disziplinierungsinstrument. Denn
natürlich gehen Menschen, die Angst vor Armut haben, eher wieder
morgens in die Fabrik oder ans Fließband, als wenn sie keinen Druck
verspüren würden, auf diese Art ihren Lebensunterhalt zu sichern.
Insofern ist Armut für das bestehende Wirtschafts- und
Gesellschaftssystem nützlich. Aber dies heißt keineswegs, dass
übermäßige Armut ihm nicht auch gefährlich werden könnte. Armut ist
kein unsozialer Kollateralschaden der Globalisierung und auch kein
sozialpolitischer Betriebsunfall, sondern durch eine
Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip entstanden: Sinngemäß
heißt es im Evangelium des Matthäus: Wer hat, dem wird gegeben, und
wer nicht viel hat, dem wird auch das Wenige noch genommen. Wenn man
auf der einen Seite durch Steuerreformen die Kapitaleigentümer, die
Begüterten und die Spitzenverdiener immer stärker entlastet und auf
der anderen Seite mit den Hartz-Gesetzen, mit Gesundheits- und
Rentenreformen diejenigen stärker belastet, die ohnehin wenig haben,
ist klar, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Und
genau das ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten auch in
Deutschland passiert.
Sollte die Steuer auf Kapitalerträge, die derzeit 25 Prozent
beträgt, erhöht werden?
Prof. Butterwegge: Aus meiner Sicht ist es notwendig,
Kapitalerträge wieder nach dem persönlichen Einkommensteuersatz zu
besteuern. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum ausgerechnet
Kapitaleinkünfte, etwa Zinsen oder Dividenden steuerrechtlich
gegenüber Einkommen privilegiert werden sollten, für die man hart
schuften muss. Ebenso wenig ist einzusehen, warum Betriebsvermögen
bei der Erbschaftsteuer privilegiert wird. Das
Bundesverfassungsgericht hat kürzlich zwar die schlimmsten Auswüchse
der Begünstigung von Betriebsvermögen gerügt, aber leider
zugestanden, dass Betriebsvermögen unter gewissen Voraussetzungen
bessergestellt werden darf als andere Vermögensarten. Mir leuchtet
dies umso weniger ein, als Produktivvermögen, das heißt der Besitz
von Unternehmen, in einer bürgerlichen Gesellschaft den Kern allen
Reichtums bildet. Dass man bisher aufgrund der Steuerpolitik
unterschiedlich zusammengesetzter Bundesregierungen einen ganzen
Konzern erben kann, ohne auch nur einen Cent betriebliche
Erbschaftsteuer zahlen zu müssen, ist gerade vor dem Hintergrund
obszön, dass große soziale Probleme in Deutschland, Europa und der
Welt zu bewältigen sind. Es ist schließlich keine Leistung, der Sohn
oder die Tochter eines Milliardärs zu sein. Gerade solche Vermögen,
die nicht auf Leistung beruhen, sollten dafür herangezogen werden,
die sozialen Probleme wie Armut, Not und Elend zu bekämpfen.
Muss angesichts eines Rentenniveaus von nur noch rund 43 Prozent
im Jahr 2030 auch in der Rentenpolitik nachjustiert werden, um die
Zahl derjenigen, denen Altersarmut droht, senken zu können?
Prof. Butterwegge: Nach einer „Infantilisierung der Armut“ ist
längst wieder eine Seniorisierung der Armut im Gange. Maßgeblich dazu
beigetragen haben die Riester- und die Rürup-Reform, also die
Einfügung der so genannten Riester-Treppe und des
Nachhaltigkeitsfaktors in die gesetzliche Rentenanpassungsformel.
Deshalb muss die Teilprivatisierung der Altersvorsorge zurückgenommen
werden. Zudem sollte das Rentenniveau wieder auf 53 Prozent vor
Steuern angehoben und der durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes
und die Liberalisierung der Leiharbeit entstandene Niedriglohnsektor,
heute das Haupteinfallstor für Erwerbs- und spätere Altersarmut,
zurückgedrängt werden. Altersarmut ist kein Lohn für die
Lebensleistung eines Menschen und wer jahrzehntelang gearbeitet hat,
muss im Alter eine Rente beziehen, von der er gut leben kann. Daher
plädiere ich für eine solidarische Bürgerversicherung, in die alle
einbezogen werden: vom Freiberufler über den Beamten bis zum
Abgeordneten. Für diejenigen, die nicht erwerbsfähig sind oder keine
Arbeit haben, muss der Staat aus Steuermitteln finanziert
Sozialversicherungsbeiträge entrichten.
Rechnen Sie mit sozialen Unruhen, wenn dies nicht gelingen sollte,
wenn sich die sozialen Gegensätze weiter zuspitzen?
Prof. Butterwegge: Zumindest wird eine Gesellschaft, die sich noch
stärker als heute in Arm und Reich spaltet, unfriedlicher, rauer und
brutaler sein. Mit mehr Kriminalität, mehr Gewalt und mehr
Drogenmissbrauch muss man dann rechnen. Selbst die Demokratie gerät
unter Druck, wenn ihr soziales Fundament bröckelt. So ist die
Entstehung der Pegida-Bewegung eine Folge der sozialen Spaltung. Wenn
die Gesellschaft stärker in Arm und Reich zerfällt, wächst in der
Mittelschicht die Angst vor einem sozialen Absturz. Deutschlands
Kleinbürgertum rückt in Krisensituationen wie nach dem Ersten
Weltkrieg und am Ende der Weimarer Republik vorwiegend nach rechts.
Zu den irrationalen Reaktionen auf Wirtschafts- und Finanzkrisen
gehören rassistische Ressentiments, Antisemitismus und
Antimuslimismus, wie er in der Pegida-Bewegung zutage tritt.
Das klingt sehr düster.
Prof. Butterwegge: Die Zukunft ist gestaltbar. So, wie in den
vergangenen Jahren und Jahrzehnten neoliberale Reformen dazu geführt
haben, dass sich unsere Gesellschaft mehr an die angloamerikanische
Welt angepasst hat, kann eine Gegenbewegung die Regierung über
außerparlamentarischen Druck zwingen, die Armut stärker zu bekämpfen
und nicht weiterhin Reichtumsförderung zu betreiben. Ob sich unsere
Gesellschaft tiefer spaltet oder in eine andere Richtung entwickelt,
hängt also letztlich auch davon ab, ob ihre Mitglieder eine größere
Sensibilität für das Problem entwickeln und sich stärker für eine
solidarischere Gesellschaft engagieren.
Das Interview führte
Werner Kolbe
Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
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