Kommissionschef Juncker ist für eine EU-Armee,
die Kanzlerin, der Außenminister und die Verteidigungschefin sind es
auch. Dennoch bleibt die 50 Jahre alte Idee eine wolkige Vision,
meint Dan Krause, sicherheitspolitischer Experte der
Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. „Solange der politische Wille
fehlt, Souveränitätsrechte aufzugeben, kann Europa sich der Idee
lediglich von unten, über gelungene multinationale Zusammenarbeit auf
niedrigem Niveau nähern.“
Schon viele Politiker haben versucht, eine EU-Armee anzuschieben.
Ist nun endlich die Zeit dafür gekommen?
Dan Krause: Nein, definitiv nicht. Ich glaube auch nicht, dass
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker eine Europa-Armee
anschieben wollte. Es ging ihm wohl eher darum, das gegenwärtige
Momentum zu nutzen. Durch die Tatsache, dass die Finanz- und
Schuldenkrise etwas beherrschbarer erscheint und natürlich aufgrund
der Ukraine-Krise wird in Europa erstmals seit Jahren wieder
intensiver über Außen- und Verteidigungspolitik debattiert und im
Juni steht ein „Verteidigungsgipfel“ der Staats- und Regierungschefs
an. Die Konzepte für eine bessere und effektivere Zusammenarbeit in
der Sicherheits- und Verteidigungspolitik liegen schon seit Langem
auf dem Tisch, sie werden allerdings nicht umgesetzt. Fehlender
politischer Wille, die Weigerung, in diesem Bereich
Souveränitätsrechte abzugeben, das Leugnen der Tatsache, dass die
Zeiten nationaler Verteidigungspolitik für Klein- und Mittelmächte
vorbei ist sowie das Trittbrettfahren im Bündnis mit den USA sind die
wesentlichen Gründe. Nicht einmal große Nationen und
Sicherheitsratsmitglieder wie Frankreich oder Großbritannien können
die gesamte Bandbreite der Verteidigung rein national durchhaltefähig
aufrechterhalten.
Europa befehligt mehr Soldaten als Washington …
Krause: Es sind im Zuge der Reduzierungen jetzt etwa gleich viele,
jeweils ca. 1,5 Millionen.
… kann aber nicht mal ansatzweise entsprechend ambitionierte
Einsätze stemmen. Was läuft falsch?
Krause: Einiges! Während rund um Europa Krisenherde entstehen oder
brennen und die „nicht-westliche“ Welt aufrüstet, leisten wir uns 28
mittlere, kleine und kleinste Armeen, die unkoordiniert und
haushaltstechnisch aber nicht sicherheitspolitisch motiviert vor sich
hin sparen und dabei ständig elementare Fähigkeiten einbüßen. Dazu
kommt die Ineffizienz beim Einsatz der Mittel. So gibt Europa
insgesamt noch immer 170 Milliarden Euro für seine Verteidigung aus.
Dennoch schaffen wir es nicht, damit unseren politischen Ansprüchen
und auch den von Vereinten Nationen und Afrikanischer Union an uns
herangetragenen Ansprüchen genügende, einsatzfähige Streitkräfte
aufzubauen und zu unterhalten. Der militärisch effektive, aber im
Ergebnis politisch desaströse Libyen-Einsatz der NATO hat gezeigt,
dass wir ohne die Amerikaner nicht einmal in unmittelbarer
geografischer Nähe in der Lage wären, militärische Macht zu
projizieren. In der Folge wird Europa von vielen Mächten nicht als
ernstzunehmender sicherheitspolitischer Akteur wahrgenommen, weil es
zu selten eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik verfolgt und
in dieser nicht über den gesamten Instrumentenkasten – und da gehören
nicht nur und nicht zuerst, aber eben auch militärische Fähigkeiten
dazu – verfügt. Wie man in der Ukraine-Krise sieht, haben wir dann in
einer europäischen Angelegenheit auf westlicher Seite die EU, die
NATO und dann noch einmal die USA für sich als Parteien in diesem
grundlegenden Konflikt mit Russland. Natürlich überwiegend Russland,
aber z.T. eben auch die USA verfolgen hier nicht oder nicht immer im
europäischen Interesse liegende Agenden. Während Merkel und Hollande
mit aller Kraft versuchen, die EU-Außenpolitik auf Kurs zu halten,
den Konflikt zu lösen und aus der einst angestrebten Partnerschaft
mit Russland zumindest keine neue Feindschaft werden zu lassen, also
gleichsam anstreben, in einer „erwachsenen“ Art und Weise, Europas
Angelegenheiten selbst zu regeln, versuchen die letzte Weltmacht USA
und die gekränkte Großmacht Russland es immer wieder, die Europäer
auf den teils selbstverschuldeten, unmündigen „Jugendlichen-Status“
aus dem Kalten Krieg zurückzustoßen. Andererseits beweist gerade die
Ukraine-Krise, die Notwendigkeit und Nützlichkeit der vielen außen-,
wirtschafts-, entwicklungs- und sicherheitspolitischen Möglichkeiten
der EU jenseits des Einsatzes militärischer Mittel. Deren
Verfügbarkeit bedarf es definitiv ebenfalls, aber wer wie die NATO
nur einen Hammer als Instrument hat, erkennt in jedem Problem einen
Nagel. Wer nur über ein Mittel verfügt, kann nicht abgestuft und
situationsgerecht antworten. Da uns jedoch im EU-Rahmen absehbar und
nicht nur aus der Sicht der osteuropäischen EU-Mitglieder und anderer
Staaten mit globalen Ambitionen wesentliche militärische
Grundfähigkeiten ohne die USA fehlen, wird es mindestens
mittelfristig bei der gegenwärtigen Komplementarität zur NATO
bleiben.
Wäre eine EU-Armee der logische Schritt, um weiteres
unkoordiniertes Sparen zu verhindern, so dass die Staaten noch
militärische Fähigkeiten behalten, die sich ergänzen?
Krause: Das Beschreiten des Weges mit dem Fernziel Euroarmee wäre
ein wünschenswerter Schritt. Selbst kleine zivil-militärische
Einsätze mit beschränktem Umfang drohen zu misslingen, wenn sich der
Trend fortsetzt und sich die Fähigkeits- und Ausrüstungsmängel weiter
verschärfen. Setzt sich die Tendenz des Abrüstens durch den Rotstift,
gepaart mit nationaler Kleinstaaterei, fort, wird Europa weitere
grundlegende Fähigkeiten einbüßen.
Wäre eine EU-Armee für das Erwachsenwerden Europas der vierte
Schritt vor dem ersten – nämlich eine gemeinsame Sicherheits- und
Außenpolitik Europas zu formen?
Krause: Ganz genau. Der Schwerpunkt muss auf der zunehmenden
Kohärenz der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik liegen. Hier
wird es beispielsweise schwer genug werden, eine, den Namen
verdienende, neue Europäischen Sicherheitsstrategie zu erarbeiten,
gar nicht zu reden von der Fernziel-Vision Euroarmee. Dagegen
sprechen u.a. die Sonderrollen von Frankreich und Großbritannien, die
als Atommächte im UN-Sicherheitsrat sitzen und einen globalen
Gestaltungsanspruch verfolgen. Zudem haben wir in den 28 Staaten
nicht dasselbe Verständnis darüber, wann, wie, wo und zu welchem
Zweck wir bereit sind, militärische Gewalt einzusetzen. Für die
gemeinsame Verteidigungspolitik sind keine neuen Konzepte nötig,
sondern der Wille, konkrete Schritte umzusetzen, die zunächst
kleinteilig sein dürften. Ermutigend ist, dass die meisten
europäischen Einsätze längst multilateral laufen. Künftig sollten
europäische Nationen verstärkt miteinander kooperieren, die ein
ähnliches Verständnis von Außenpolitik und dem Einsatz von Soldaten
haben. Für Deutschland kämen da Österreich, die Niederlande, Polen
und die nordischen Staaten ins Blickfeld.
Warum gilt die Euro-Rettung als Testfall für den integrativen
Willen der EU, nicht aber die Verteidigungspolitik?
Krause: Weil die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise die
Grundlage der Handlungsfähigkeit Europas ist, auch in den Bereichen
Wohlfahrt und Sicherheit. Erwartungen, dass die Euro-Krise und der
existenzielle Spardruck in den Verteidigungsetats zu einer weiteren
Integration im sicherheitspolitischen Bereich führen würden, haben
sich zerschlagen. Auch durch den externen Schock der Ukraine-Krise
entwickelt sich in Europa – nicht zuletzt aufgrund der hier wieder
gern in Anspruch genommenen Sicherheitsgarantie der USA – bisher
nicht genügend politischer Wille, um die notwendigen Schritte
einzuleiten. Das reflexartige Beharren der Briten auf Souveränität in
Verteidigungsfragen als Reaktion auf Junckers Vorschlag zeugt davon,
wie tief dieses Denken in den EU-Hauptstädten verankert ist. Es
regiert die Angst, sich im Ernstfall nicht auf den anderen verlassen
zu können.
Braucht die Händler-Großmacht EU militärische Muskeln, um Raubzüge
wie den von Putin in der Ukraine künftig verhindern zu können?
Krause: Nein. Mehr Muskeln als die NATO können wir ohnehin nicht
aufbauen und auch die NATO konnte die Entwicklung in der Ukraine ja
nicht verhindern. Die aus meiner Sicht absolut richtigen
wirtschaftlichen Sanktionen der EU treffen Putin viel stärker und
sind viel flexibler und anwendbarer als militärische Gewalt außerhalb
des Bündnisgebietes. Außerdem sollten wir uns in den ehemaligen
Sowjetrepubliken auch nicht militärisch und gegen Russland
engagieren, denn das hätte katastrophale Folgen, die wir in Europa
und nicht in den USA am stärksten spüren würden. Die kollektive
Verteidigung bleibt mehr denn je Hauptaufgabe der NATO.
In der NATO brechen immer mehr Konflikte auf, das Bündnis ist
heterogener geworden. Wäre eine autonome europäische
Sicherheitspolitik der Sargnagel für die NATO?
Krause: Mittelfristig nein, weil Europa dazu der politische Wille
und die militärischen Fähigkeiten fehlen und auf absehbare Sicht
weder Briten, noch Polen, noch Osteuropäer bereit sein werden, auf
eine EU-Armee zu setzen. Langfristig kann sich so eine Frage stellen,
falls Europa sich dazu entschließen sollte, seine Ressourcen
gemeinsam und ähnlich effektiv einzusetzen, wie dies andere Akteure
in der Welt tun.
Die USA wenden sich verstärkt dem Pazifik und dem Rivalen China
zu. Bleibt Europa nichts anderes übrig, als auch in der
Verteidigungspolitik erwachsen zu werden?
Krause: In der Tat und das gilt ebenso für die Außenpolitik. Die
Gewichte verschieben sich, insbesondere nach Asien. Unser Einfluss
auf die Dinge schwindet und nur gemeinsam können wir unsere
Interessen zukünftig noch hörbar vorbringen. 1950 stellten die
Europäer noch 20 Prozent der Weltbevölkerung, 2010 noch zehn Prozent,
2050 werden es nur noch fünf Prozent sein. Noch sind wir weltweit der
größte Binnenmarkt, haben das größte Bruttoinlandsprodukt. Aber wir
werden mittel- und langfristig keine Rolle mehr spielen, wenn wir die
europäische Kleinstaaterei in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht
verringern und schließlich ganz beenden. Sinken unsere militärischen
Fähigkeiten weiter, werden wir auch im Bündnis für die Amerikaner
immer uninteressanter und unser Einfluss wird auch da schwinden.
Kommt die Idee einer erwachsenen Außen- und Sicherheitspolitik zu
spät, berücksichtigt man die Tendenzen einer Renationalisierung in
Europa?
Krause: Jean-Claude Juncker drängelt möglicherweise, weil er
spürt, dass sich das historische Fenster für dieses Projekt schließen
könnte. Nach den Erfahrungen mit dem Euro scheint es mir aber
wichtig, dieses Projekt nicht von oben durchdrücken zu wollen,
sondern es von unten zu entwickeln. Statt über blockierte Visionen,
wie ein gemeinsames operatives Hauptquartier zu streiten, sollten
sich bi-, tri- und multilaterale Inseln der Kooperation bilden mit
Staaten, die ähnlich denken, bei denen das Parlament eine ähnliche
Rolle in der Kontrolle der Außen- und Sicherheitspolitik spielt, die
ähnliche Vorstellungen über den Einsatz diplomatischer,
entwicklungspolitischer, ziviler und militärischer Mittel haben. So
kooperieren wir ja immer verstärkter mit unseren polnischen und
niederländischen Nachbarn und unterstellen uns gegenseitig
Truppenverbände, oder arbeiten mit den Finnen zusammen, die denselben
Transporthubschrauber einsetzen, wie wir, sich aber für ihre geringe
Anzahl an Hubschraubern keine eigenen Simulatoren für Ausbildung und
Training leisten wollen, weil sich dies nicht rechnen würde. Bei
kleineren, überschaubaren Schritten sehen die Beteiligten eher den
Nutzen und fühlen sich nicht überfahren. Nur die Koordination dieser
vielen kleinen Schritte muss dann auf EU-Ebene erfolgen und darauf
muss man sich einigen. Die Strukturen sind vorhanden.
Das Interview führte Joachim Zießler
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