Landeszeitung Lüneburg: „Gefährliche Mogelpackung“ – Interview mit Günter Verheugen

Ehemaliger Erweiterungskommissar Günter
Verheugen: Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten legt Sprengsatz
an EU

Vor 15 Jahren managten Sie als EU-Erweiterungskommissar das
Wachstum der 15. Hatten Sie damals je die Befürchtung, bei der Wahl
in einem Gründungsmitglied könnten EU-Feinde stärkste Kraft werden
oder dass ein Schwergewicht wie Großbritannien ausschert?

Günter Verheugen: Nein, das war damals für mich völlig
unvorstellbar – und nicht nur für mich. Gerade die ersten Jahre
dieses Jahrhunderts waren geprägt von einem starken Optimismus. Das
war ja nicht nur die Zeit, in der sich die EU zugetraut hat, dieses
gigantische Erweiterungsprojekt durchzuführen, sondern es war auch
die Zeit, in der die sogenannte Lissabon-Strategie entwickelt worden
ist, die ja immerhin zum Ziel hatte, bis zum Jahr 2010 die EU zur
dynamischsten und stärksten Wirtschaftsregion der Welt zu machen. Das
fand damals niemand komisch, es erschien realistisch. Aus heutiger
Sicht lassen sich aber damals erste Krisenanzeichen ausmachen. Etwa
die Diskussion um den Euro und den Vertrag von Maastricht vor 25
Jahren. Damals verlor die europäische Integration den Charakter des
Selbstverständlichen. Damals war die europäische Einigung in einem
Ausmaß Raison d–Être, Daseinszweck deutscher Politik, dass
europäische Projekte im Bundestag gewöhnlich ganz ohne Debatte – und
damit leider auch ohne Beteiligung der Bürger – durchgewunken wurden.
Heute rächt sich, dass es eine wirkliche Verankerung der Idee in den
Gesellschaften nicht gegeben hat. 2005 wurde das wachsende
öffentliche Unbehagen sichtbar bei den gescheiterten Referenden in
Frankreich und den Niederlanden zur EU-Verfassung.

Waren die Wahlen in den Niederlanden eher Anti-Trump- oder
Anti-Erdogan-Wahlen?

Diese Wahl war nicht ausschließlich von außenpolitischen Themen
bestimmt, aber Trump und Erdogan haben indirekt mit dafür gesorgt,
dass die Rechtspopulisten um Geert Wilders nicht so stark wurden, wie
befürchtet worden war. Ich glaube in der Tat, dass das Erschrecken
über die Tabubrüche des neuen US-Präsidenten in den Niederlanden das
Gefühl verstärkt hat, dass man nun zusammenstehen müsse. Die
vermeintlich harte Haltung, das Verbot von Wahlkampfauftritten hat
sicher seine Wirkung gezeigt. Allerdings sollte nicht vergessen
werden, dass in den Niederlanden die Skepsis seit der
Jahrtausendwende gegenüber einer europäischen Perspektive der Türkei
sehr groß ist. Wobei die Vorstellung völlig absurd wäre, dass die
Türkei in ihrer heutigen Verfassung Mitglied der Europäischen Union
werden könnte.

Trotz der Dämpfer für Geert Wilders in den Niederlanden und Hofer
in Österreich muss doch konstatiert werden: Weder bei den Regierungen
noch bei den Bevölkerungen gibt es eine Mehrheit für die Vision einer
Bundesrepublik Europa….

…auch ich habe diese Vision nie geteilt und glaube auch nicht,
dass es jemals in einem Mitgliedsland eine Mehrheit für einen
Bundesstaat Europa gab. Das entspricht nicht unserer Mentalität und
Geschichte. Unsere Identität in Europa ist überwiegend eine
nationale. Ich selbst empfinde mich als Rheinländer, als Deutscher
und als Europäer. Ich würde nie sagen: Ich bin Europäer und sonst
nichts. Die nationalen Traditionen und die kulturelle Vielfalt in
Europa sind viel zu mächtig, als dass sich die Staaten in einen
Zentralstaat pressen ließen. Das war aber auch nicht das Ziel der
Integration – das wurde bewusst offen gelassen. Ist die jüngst von
Merkel, Hollande und Gentiloni favorisierte Strategie eines Europas
der verschiedenen Geschwindigkeiten die nun angemessene? Ich halte
sie für eine Mogelpackung. Denn dieses Instrument existiert schon
seit Jahren, ist aber nur in unbedeutenden Einzelfällen verwendet
worden. Interessanterweise haben die Drei auch nicht erwähnt, in
welchem Bereich sie sich als Gruppe zusammenschließen wollen, um
voranzuschreiten.

Außen- und Sicherheitspolitik lägen nahe…

…genau, das ist der Bereich, an den man als erstes denken würde.
Allerdings haben gerade die, die jetzt nach einem Europa der
verschiedenen Geschwindigkeiten rufen, in der Vergangenheit oft eine
gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik verhindert, weil sie lieber
ihre nationale Agenda verfolgten – da sind Franzosen und Deutsche
durchaus an erster Stelle zu nennen. Wenn gemeint sein sollte, dass
die verschiedenen Geschwindigkeiten zu unterschiedlichen Levels der
Integration etwa im Bereich Schengen- oder Euro-Raum führen, wäre das
sogar ein Sprengsatz für die Europäische Union. Genau das fürchten
die Ost- und Mitteleuropäer.

Und Sie teilen diese Bedenken?

Ja, sicher. Wir müssen durch eine Reformphase, in der die Dinge
angepackt werden, die die Bürger am jetzigen Integrationszustand der
EU stören. Gegen die europäische Idee an sich hat kaum jemand etwas,
weil doch offensichtlich ist, dass wir in der Welt von morgen als
Nationalstaat nichts mehr zu beschicken haben. Auch zurück ins Europa
des 19. Jahrhunderts will kaum jemand. Das Unbehagen entzündet sich
an dem, was aus der Idee geworden ist: Eine Kommission, die versucht,
sich überall Kompetenzen zu verschaffen. Ein Übermaß an Vorschriften
in Bereichen, die auch national oder sogar regional gehandhabt werden
könnten. Die Balance zwischen der Eigenverantwortung der
Nationalstaaten und dem Machtanspruch der supranationalen Ebene ist
gestört – und zwar zu Lasten der Nationalstaaten. Aus meiner Sicht
war das ernstzunehmendste Argument in der Brexit-Debatte: „We want
our country back!“ Das kann man aber korrigieren, so dass in der
Zukunft die Integration in den Bereichen gestärkt wird, in denen es
nötig ist. So bin ich auch angesichts der Töne, die über den Atlantik
hinüberschallen, entschieden für europäische Streitkräfte. Zudem gilt
es, den Euro und den Binnenmarkt neu auszurichten, weil sie zwar per
Saldo den Wohlstand vermehren, aber auch die Ungleichheit.

In der Eurokrise offenbarte sich im Süden ein Mangel an
Haushaltsdisziplin, in der Flüchtlingskrise im Osten ein Mangel an
Solidarität. Bietet Donald Trump, der in Europa eher den Rivalen als
den Partner sieht, die Chance, zusammenzurücken?

Trump könnte für die Europäer ein Tritt in ein bestimmtes
Körperteil sein, der uns beibringt, nicht so weiterzumachen wie
bisher. Dabei gilt es, unsere Unabhängigkeit durch Einigkeit zu
stärken. Es muss verhindert werden, dass einzelne europäische
Regierungen versuchen, sich bei Trump einzuschmeicheln. Aber dazu
gehört auch, dass wir uns selbst nicht auseinanderdividieren, in den
Süden, den Norden, den Osten, die alten, die neuen… Sondern dass
wir zu 27 zusammenstehen, immer.

Diese Botschaft muss ja auch gegenüber Downing Street 10 vertreten
werden…

…Korrekt, aber mit einer Einschränkung. Die Zukunft kann nicht
als EU 27 gegen Großbritannien sondern nur mit Großbritannien
organisiert werden. Die Regierung May hat sich für ein hartes
Ausstiegsszenario entschieden, das wird sie dann wohl auch kriegen.
Das hat für die Kontinentaleuropäer möglicherweise den Vorteil, dass
die Attraktivität des britischen Ausstiegsmodells für andere Länder
sehr gering sein wird. Aber es könnte sich auch als Eigentor
erweisen. Wir Deutsche sollten uns jedenfalls nichts vormachen, wir
haben in der EU unseren wichtigsten Verbündeten verloren. Auch wenn
aus Gründen der politischen Etikette meist Frankreich mit diesem
Attribut belegt wird, bildeten in fast allen zentralen Fragen der EU
Deutschland und Großbritannien eine Achse. Zudem exponiert der Brexit
Deutschland sehr stark. Immer wieder ist zu hören, Deutschland solle
nun in der EU vorangehen, doch davor kann ich nur warnen. Ich kenne
in den Hauptstädten niemanden, der von Deutschland geführt werden
möchte. Man darf sich da von der wohlfeilen Kritik an Deutschland,
dass es nicht führt, nicht täuschen lassen. Führung nicht,
Verantwortung ja.

Wie reformfähig ist die EU, die den Brexit stemmen muss und
zugleich gebannt auf die Wahlen in Frankreich und Deutschland starrt?

Ich erwarte in diesem Jahr keine großen politischen Ergebnisse.
Der jüngste Gipfel in Brüssel schrammte haarscharf an einer
Katastrophe vorbei. Wir können schon froh sein, dass überhaupt eine
Erklärung zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge zustande gekommen
ist. Vor den Wahlen in Frankreich und Deutschland ist mit
Substanziellem nicht mehr zur rechnen. Die Erleichterung, mit der das
Ergebnis der Wahlen in den Niederlanden aufgenommen wurde, sprach
Bände und war in keiner Weise berechtigt, es sei denn, alle waren
davon ausgegangen, dass Wilders gewinnen würde. Möglicherweise aber
sieht die Lage am Ende des Jahres anders aus. Denkbar wäre, dass in
Frankreich der Pro-Europäer Emmanuel Macron gewinnt, oder dass es in
Deutschland einen Regierungswechsel unter Martin Schulz gibt. Dann
wären zwei sehr überzeugte Europäer an der Spitze der beiden
wichtigsten EU-Staaten und es würde sich ein Fenster öffnen für eine
neue deutsch-französische Initiative. Ich will übrigens nicht
ausschließen, dass Frau Merkel das – abhängig von der Koalition, die
sie tragen würde – auch könnte. Aber sie hatte dafür eigentlich genug
Zeit.

Fällt ein uneiniges Europa angesichts einer isolationistischen USA
und einem selbstbewussten China auf die Rolle eines Spielballs
zurück?

Spielball wäre vielleicht zu viel gesagt, aber eine politisch
zerstrittene und wirtschaftlich schwache EU hätte große
Schwierigkeiten, im Konzert der Mächte noch gehört zu werden. Ein
solche EU hätte keine Gestaltungskraft und müsste die politischen
Entscheidungen anderer schlicht und einfach erdulden. Wir müssen
davon ausgehen, dass es global zu gewaltigen Machtverschiebungen
kommt. Der Einfluss der EU schwindet dabei auf jeden Fall. Nur wenn
wir unsere Stärken zusammenfassen, können wir das etwas kompensieren.

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Werner Kolbe
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