Landeszeitung Lüneburg: Gewalt ist immer eine Möglichkeit – Sozialpsychologe Prof. Harald Welzer befürchtet Verteilungskriege um knappe Ressourcen als Folge des Klimawandels

Klima macht Geschichte. Hannibals Elefanten
erfroren nicht in den Alpen, weil sein Feldzug in eine Warmzeit fiel.
Eine Kaltzeit mit Missernten und unterernährten Menschen erhöhte die
tödliche Virulenz der Pest. Trotz aller Warnungen glauben viele
Menschen, der Klimawandel könnte mit höheren Deichen und zusätzlichen
Versicherungen abgewettert werden. Wie die Welt im Klimawandel
tatsächlich aussehen wird, erläutert der Sozialpsychologe Prof.
Harald Welzer im Interview.

Eine Warmphase begünstigte den Aufstieg Roms, Missernten
begünstigten Revolutionen. Wieso verharren die
Industriegesellschaften in dem Irrglauben, die Klimaerwärmung ließe
sie ungeschoren?

Prof. Harald Welzer: Weil man erstens an dem Zustand hängt, den
man kennt. Man kann sich nicht vorstellen, dass die gewohnten
Bedingungen sich fundamental ändern. Und zweitens, weil der
Klimawandel für die Sinneserfahrung nicht unmittelbar erschließbar
ist.

Wie werden kapitalistische Gesellschaften reagieren, wenn der
Klimawandel ihnen das Versprechen ewigen Fortschritts nimmt?

Prof. Welzer: Hier ist die Futur-Form gar nicht angebracht. Wir
können ja derzeit sehen, wie sie reagieren: nämlich im Fortschreiben
ihres business as usual. Die Zulassungszahlen bei den SUV, den
schlimmsten Umweltverbrauchern unter den Autos, sind aktuell in
Deutschland um 20,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen.
Imposante Wachstumsraten feiern auch die energieintensiven
Industriebranchen. Und die Verbraucher scheint das nicht sonderlich
zu stören, sonst würden sie klimaschädliche Produkte nicht kaufen.
Insofern reagieren kapitalistische Gesellschaften gar nicht oder nur
sehr begrenzt. Erneuerbare Energien werden zwar gefördert, ebenso
Energiesparen, aber in Richtung einer grundlegenden Änderung von
Lebensstilen und Ressourcenverbrauch ändert sich nichts.

Im Treibhaus Erde zählt Afrika zu den Verlierern. Sind die
Flüchtlingstragödien im Mittelmeer nur Vorboten großer
Wanderungsbewegungen?

Prof. Welzer: Ganz sicher, wobei man sich davor hüten muss, dies
zu quantifizieren. Es gibt keine belastbaren Zahlen über das
Anwachsen der Flüchtlingszahlen. Einfach hochrechnen lassen sich die
aktuellen Zahlen jedenfalls nicht, weil man weder weiß, wie die
Menschen auf Wüstenbildung und Extremwetter reagieren noch
einschätzen kann, zu welchen Gegenmaßnahmen die Länder im Norden
greifen. Wir können aber sicher davon ausgehen, dass es infolge der
Migration und der Abwehrreflexe gegen die gefühlte Bedrohung mehr
Quellen für Gewalt geben wird.

Bietet der Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen in Europa
einen Ausblick darauf, wie Demokratien reagieren, wenn sie unter
Stress geraten?

Prof. Welzer: Was man sehen kann — etwa in der Schweiz mit der
Ausschaffungsinitiative — ist ein Versagen der demokratischen
Eliten, weil diese nichts dagegen tun, dass rechtspopulistische
Positionen Oberhand gewinnen und auch keine Gegenpositionen aufbauen.
Etwa, indem sie die Schizophrenität benennen, einerseits die schiefe
Alterspyramide unserer Gesellschaft zu bejammern und andererseits mit
aller Kraft zu versuchen, junge, hochmotivierte Flüchtlinge am Zuzug
zu hindern. Nur das Versagen der Deutungseliten ermöglichte auch den
Erfolg des unsäglichen, Vorurteile bedienenden Buches von Sarrazin.
Prinzipiell geraten Gesellschaften immer unter Stress, wenn es
tiefgreifende Veränderungen gibt. Die traditionellen Demokratien des
Westens erleben derzeit aber multifaktoriellen Stress, den sie so
seit Jahrzehnten nicht mehr kannten: Die Finanz- und
Wirtschaftskrise, der demografische Wandel, die Migration und der
Klimawandel fordern die Gesellschaften in einer Phase heraus, in der
der Westen einen schleichenden Bedeutungsverlust erleidet.

Die USA verschanzen sich hinter einem Grenzzaun, Europa hinterm
Mittelmeer. Beendet der Klimawandel die Ära, in der sich Demokratien
als Schutzhafen für Verfolgte sahen?

Prof. Welzer: Nimmt man eine ganz negative Perspektive ein,
befinden wir uns noch in einem glücklichen Zustand, weil die Folgen
des Klimawandels noch nicht manifest geworden sind. Wenn eintritt,
was die Klimaforscher prognostizieren, werden wir extreme
Ungleichheiten in den Auswirkungen haben. Es wird Verlierer und
Gewinner geben, wobei zumeist die stärker leiden, die schon zu den
benachteiligten Ländern zählen und die Länder glimpflich davonkommen,
die die meisten Emissionen produziert haben. Wir werden erleben, wie
sich die Einwohner der glücklichen und unglücklichen Länder verhalten
und wie sie versuchen werden, ihre Konflikte zu regulieren oder eben
nicht.

Sie sehen in Gewalt zwar keine anthropologische Konstante, aber
eine soziale. In einer Welt, in der Flussdeltas wie die des Nils und
des Ganges überflutet werden, wird Hunger herrschen. Wird es zu
Verteilungskämpfen kommen?

Prof. Welzer: Ja, und auch da muss man vom Futur ins Präsens
überwechseln. Selbstverständlich besteht immer Konkurrenz beim Zugang
zu Ressourcen. Je stärker es an die Lebensgrundlagen geht, desto
größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass dabei Gewalt gebraucht wird.
Die Spanne der Konfliktformen reicht von wirtschaftlicher Erpressung
bis zu militärischer Gewalt, je nachdem, wie groß die
Handlungsspielräume noch sind.

Also wird Krieg auch das Mittel der Wahl sein, bei knapper
werdendem Trinkwasser? Abschmelzende Gletscher lassen Flüsse
versiegen …

Prof. Welzer: Es gilt der klassische Satz, dass man keine
Psychologie braucht, um zu erklären, warum Menschen stehlen, die
Hunger haben, sondern man braucht Psychologie, um zu erklären, warum
sie es nicht tun. Geht es für einen Staat an die
Überlebensgrundlagen, wird er Gewalt anwenden, um diese
sicherzustellen. Die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte lehrt,
dass es noch nicht mal wahrhaft lebensbedrohlicher Szenarien bedarf,
sondern dass es schon ausreicht, dass eine Nation sich in ihrer
territorialen Integrität bedroht sah. Wir hatten einen
Bundespräsidenten, der sein Amt niedergelegt hat, weil er darüber
räsonierte, dass sich Deutschland den Zugang zu lebenswichtigen
Ressourcen auch mit Gewalt bahnen können sollte. Wenn es um
Ressourcen geht, ist Gewalt immer eine Option.

Sie haben in einer Studie über den Nationalsozialismus
nachgewiesen, wie schnell sich moralische Werterahmen verschieben.
Humanistisch erzogene Deutsche bereicherten sich bedenkenlos am
Besitz ihrer deportierten jüdischen Mitbürger. Bietet die
Erfolgsgeschichte der BRD keinen Schutz gegen ähnlichen Werteverfall?

Prof. Welzer: Das weiß ich nicht. Die zentrale Lehre aus dem
Nationalsozialismus ist, alle Verkehrsformen strikt nach
rechtsstaatlichen Prinzipien zu strukturieren. Solange
rechtsstaatliche Prinzipien eingehalten werden, ist die Gefahr
gering. Dass Rechtspopulisten versuchen, den moralischen Rahmen einer
Gesellschaft zu verschieben, ist so lange nicht schlimm, wie die
rechtsstaatlichen Regulierungen stark genug sind, um Einhalt zu
gebieten. Wird diese Haltung aufgeweicht, sodass Vorurteile nicht
mehr konterkariert, sondern zu Anlässen staatlicher Politik werden,
ist der Barbarei Tür und Tor geöffnet.

Überfordert ein radikaler Wandel, der sich schleichend vollzieht
wie der Klimawandel, den menschlichen Geist?

Prof. Welzer: Vielleicht sollte man gar nicht so große Fragen
stellen, sondern darauf verweisen, dass es viele kleine und große
Gruppen gibt, die am Fortbestehen des ,,business as usual“
interessiert sind. Zudem ist unser ganzes Wirtschaftssystem auf die
Erzeugung von beständigem Wachstum ausgerichtet. Selbst, wenn man
jetzt zu dem Schluss kommt, dieses System ist falsch, sind Änderungen
sehr schwierig, weil die gesamte Infrastruktur auf dieses Prinzip
ausgerichtet ist. Dennoch muss etwas fundamental geändert werden,
ansonsten sind unsere Gesellschaften nicht zukunftsfähig.

Was muss passieren, damit die von Ihnen geforderte Abkehr von der
Leitkultur der Verschwendung und von der Zivilreligion des Wachstums
vollzogen wird?

Prof. Welzer: Man muss erstmal, auch wenn sich das blöd anhört,
selbst denken. Nämlich um zu erkennen, dass unser Verhalten oft
idiotisch ist: So zeigen die Konsumstatistiken, dass sich unser
Verbrauch von Möbeln und Kleidung in den vergangenen 20 Jahren
verdoppelt beziehungsweise verdreifacht hat. Die Gebrauchszyklen
wurden kürzer, es werden Sachen gekauft, die offenbar gar nicht
gebraucht werden. Ein Schreibtisch wurde noch in den achtziger Jahren
mit der Perspektive gekauft, ihn für Jahrzehnte zu besitzen. Heute
landet er oft schon nach zwei, drei Jahren auf dem Sperrmüll. Wenn
man sich diesen Irrsinn einmal bewusst macht, beginnt man, sein
Konsumverhalten zu ändern.

Dabei setzen Sie auf eine hoch motivierte, aktive
Zivilgesellschaft mit verstärkter demokratischer Teilhabe. Ist der
„Wutbürger“ für Sie ein Hoffnungsschimmer?

Prof. Welzer: Ja, aber ich würde ihn nie als „Wutbürger“
bezeichnen. Das ist eine denunziatorische Bezeichnung. Menschen, die
für ihre Überzeugungen eintreten und dafür die Form des öffentlichen
Protestes wählen, sind schlicht demokratische Bürger. Das fällt uns
nur deswegen so auf, weil der demokratische Bürger ansonsten nicht
mehr in Erscheinung tritt, sondern nur vor einer Polit-Talkshow sitzt
und flucht. Derjenige, der auf die Straße geht, hält die Demokratie
am Leben, revitalisiert sie. Selbst zu denken und versuchen, etwas zu
bewegen, ist demokratische Wahrnehmung von Verantwortung.

Das Interview führte

Joachim Zießler

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