Er ist entschiedener Gegner der Todesstrafe, aber
„glücklich, dass mein Vater gehenkt wurde“: Niklas Frank (76) ist der
Sohn von Hans Frank, dem NS-Generalgouverneur von Polen und
„Judenschlächter von Krakau“. In Franks Herrschaftsbereich lagen vier
Vernichtungslager, in denen die fabrikmäßige Vernichtung der
europäischen Juden vollzogen wurde. Brigitte Frank, die Mutter von
Niklas, nutzte ihre Stellung als „Königin von Polen“ gnadenlos aus –
„schwamm wie ein Fettauge auf dem Leid der Geknechteten“, wie ihr
Sohn schrieb. Als Journalist und Buchautor machte Niklas Frank seine
Familiengeschichte zu seinem Lebenswerk: „Das späte Schweigen und
stille Selbstmitleid all der Mittäter versetzt mich immer noch in
Wut“.
Sie haben mit Ihren Büchern Ihrem Vater und Ihrer Mutter je einen
Schandpfahl errichtet, auch über einen ihrer Brüder geschrieben.
Ersparte Ihnen die literarische Abrechnung die Teilnahme an
Selbsthilfe-Seminaren, die seit 2008 für die Kinder und Enkel von
NS-Tätern veranstaltet werden?
Niklas Frank: Zum Glück hatte ich eine derartige Therapie nie
nötig. Ich fühle mich ungeheuer gesund, auch psychisch. Deshalb fand
ich es immer albern, mir so etwas vorzuschlagen. Dabei habe ich
grundsätzlich nichts gegen Therapien, habe sogar eine absolviert. In
meinen letzten Jahren als Journalist war ich Kriegsreporter beim
„stern“, habe unzählige Leichen und Gefolterte gesehen. Ich dachte,
ich wäre ein cooler Typ, dem das nichts ausmacht. Doch beim Anschlag
von 9/11 brach ich dann zusammen. Da kamen all die Eindrücke der
vorangegangenen Jahre hoch. Hätte ich also das Gefühl gehabt, dass
ich meine Familiengeschichte ohne Therapie nicht bewältigen kann,
hätte ich es getan. Das Schreiben war allerdings keine
Ersatztherapie. Denn es sind neben meinem Vater vor allem die Opfer,
die mir nicht aus dem Kopf gehen. Das ist die eigentliche Belastung.
Während Ihnen nach Ihrem Buch über Ihren Vater noch blanke
Verachtung entgegenschlug, boomte in den 90er-Jahren die
NS-Täterkinder-Literatur. Haben Sie das Eis gebrochen?
Frank: Das habe ich nie so gesehen. Ich war zwar einer der Ersten,
der über die Schuld seiner Eltern im Nationalsozialismus schrieb,
doch die nachfolgende Welle hat mich nie interessiert. Vor allem
deshalb, weil die meisten Kinder von Tätern letztlich darauf aus
sind, zu vergeben. Und das kann ich nicht.
Anfang des Jahrtausends rückten die Deutschen als Opfer in den
Fokus, als Vertriebene und als Bombenopfer. Zeigt gerade das Buch
über Ihre Mutter, die nie NSDAP-Mitglied war und dennoch durch den
Vernichtungskrieg zur „Königin von Polen“ aufstieg, wie unverzichtbar
es ist, die Mittäter-Perspektive nie aus den Augen zu verlieren?
Frank: Das halte ich in der Tat für extrem wichtig. Denn wir
neigen schon in unserer Sprache zum Verdrängen. So reden Medien gerne
von „den Nazi-Verbrechen“ – als ob ein unbekannter Stamm aus der
inneren Mongolei zwischen 1933 und 1945 über uns gekommen wäre, um
die entsetzlichsten Verbrechen zu begehen und dann zu verschwinden.
Mit diesem Wort wird also schon Schuld weggedrückt. Tatsächlich waren
es „deutsche Verbrechen“ und nicht „NS-Verbrechen“. Man kann nicht
behaupten, dass nur Parteimitglieder Verbrechen begangen hätten. Es
waren alle dabei. So war meine Mutter gegenüber den Nazis schon
alleine deswegen reserviert, weil ihr das ständige Schreien und die
Aufmärsche auf die Nerven ging. Dennoch war sie eine große
Nutznießerin des Systems. Und sie hätte die Karriere meines Vaters,
der Angst vor ihr hatte, jederzeit stoppen können. Sie tat es aber
nicht, weil sie den NS-Prunk nicht missen wollte.
Drei Ihrer Geschwister waren politisch rechts. Ihr Bruder Norman
litt unter dem Zwiespalt, seinen Vater zu lieben, obwohl er um dessen
Verbrechen wusste. Hätte es Ihr Vater Ihnen leichter gemacht, wenn er
in Nürnberg voll zu seiner Schuld gestanden hätte, wie etwa Hermann
Göring?
Frank: Es wäre leichter gewesen, wenn er sein ursprüngliches
Schuldanerkenntnis aufrechterhalten hätte. Zunächst hatte er auf die
Frage seines Anwalts Dr. Seidl im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess,
ob er an der Vernichtung von Juden beteiligt gewesen sei,
geantwortet: „Ich sage Ja; und zwar sage ich deshalb Ja, weil ich
unter dem Eindruck dieser fünf Monate der Verhandlung und vor allem
unter dem Eindruck der Aussage des Zeugen Höß es mit meinem Gewissen
nicht verantworten könnte, die Verantwortung dafür allein auf diese
kleinen Menschen abzuwälzen.“ Gleich darauf vermengt er aber seine
persönliche Schuld mit der ganz Deutschlands: „Tausend Jahre werden
vergehen und diese Schuld von Deutschland nicht wegnehmen.“ Kurz
danach nahm ihn der russische Ankläger ins Kreuzverhör. Da leugnete
mein Vater wieder jegliche Verantwortung. Das kann man nicht machen,
erst gestehen, um gleich darauf wieder zu lügen. Ich hätte nie die
Bücher geschrieben, wenn er bei seinem Geständnis geblieben wäre,
wenn er ehrlich bereut hätte. Aber der einzige Ratschlag fürs Leben,
den er meinem Bruder Norman bei dessen letztem Besuch im Gefängnis
mitgeben hat, war der, nicht zu offen zu sein – also auf gut Deutsch:
feige zu bleiben.
Fiel Ihnen die Aufarbeitung Ihrer Familiengeschichte leichter,
weil Ihr Vater Sie als kleinen Jungen zurückwies, weil er vermutete,
dass Sie einem Seitensprung Ihrer Mutter entsprungen waren?
Frank: Ich bin sicher, dass das dazu beigetragen hat, weil ich so
schon früh von ihm auf den Weg gestoßen worden bin, Abstand zu
suchen. Auf eine Sache bin ich heute noch stolz: Mein Vater war gegen
Kriegsende bereits aus Krakau zu uns an den Schliersee geflohen, ich
war damals fünf. Seine Brille lag auf einer kleinen Kommode. Ich
schaute ihn von unten nach oben an, nahm seine Brille und brach die
Bügel nach vorn. Seinen Blick werde ich nie vergessen: Er war völlig
baff, gab mir sogleich eine Ohrfeige. Ironisierend könnte man sagen,
dass das meine erste politische Tat war. Anfänglich speiste sich
meine Distanz vor allem aus dem Gefühl zurückgewiesener Liebe, doch
mittlerweile ist die Quelle vor allem meine Wut darüber, was er mit
angerichtet hat. Lange Jahre habe ich in den Akten gesucht, ob er mal
einen Menschen gerettet hat. Ich habe nie etwas gefunden.
Ihre Eltern bereicherten sich mitleidlos an den zur Vernichtung
vorgesehenen Menschen in ihrem Machtbereich, zum Teil vor Ihren Augen
– so fuhr Ihre Mutter mit Ihnen ins Ghetto. Haben Sie den Mangel an
Empathie an Sie weitergegeben?
Frank: Einerseits empfinde ich stark mit den Opfern mit. Die
Vorstellung etwa, meine Liebsten würden mir so brutal genommen
werden, wie dies unter meinem Vater geschah, zerreißt mir das Herz.
Andererseits bin ich ein Mensch, dem es bisweilen schwer fällt, Liebe
zu geben. Das passiert zwar auch Menschen mit anderen Eltern, aber es
könnte natürlich die Folge davon sein, dass man mir gegenüber nie
Liebe gezeigt hat.
Als kleiner Junge genossen Sie den ungeheuren Prunk der NS-Sieger,
lebten auf dem Stammsitz der polnischen Könige. Ängstigt Sie die
Vorstellung, was aus Ihnen geworden wäre, wenn die Nazis gewonnen
hätten?
Frank: Nein, überhaupt nicht. Auch wenn diese Frage eigentlich
unbeantwortbar ist, hoffe ich, ich wäre so geworden wie Norman. Der
war zwar bei der Hitler-Jugend, machte sich dort aber einen Spaß
daraus, die Vorgesetzten mit seinen viel besseren Sportleistungen
bloßzustellen. Bei der Musterung 1944 nuschelte er bei der Antwort
auf die Frage nach dem Beruf des Vaters so sehr, dass in seinem
Wehrpass „Meister“ stand. Wutentbrannt ließ mein Vater dies dann
korrigieren auf: Reichsminister und Generalgouverneur von Polen.
Ihr Vater zählte als promovierter Jurist zur Elite. Historische
Zufälle eröffneten ihm die Chance zu grenzenloser Macht und
grenzenlosem Reichtum. Ihre Mutter nahm aus bitterarmen Verhältnissen
den unbedingten Willen zum Aufstieg mit. Wären Ihre Eltern Verbrecher
geworden, wenn sie als Briten geboren worden wären?
Frank: Das glaube ich nicht. Meine Mutter wäre eine glänzende
Managerin geworden. So floppte das Buch „Im Angesicht des Galgens“,
das mein Vater in Haft schrieb, zunächst. Meine Mutter gab es dann im
Eigenverlag heraus und bewarb es so ideenreich, indem sie katholische
Priester direkt ansprach, dass sie am Ende damit 250 000 Mark
verdiente – damals eine Menge Geld. Sie konnte auch auf Kommando
weinen, wenn sie beim Drucker auf Stundung ihrer Schulden drängte.
Und nachdem die Bucherlöse weg waren, war sie sich nicht zu fein,
ihre Wohnung in Fremdenzimmer zu unterteilen und diese an Reisende zu
vermieten, die sie auf dem Bahnhof angesprochen hatte. Die Art, wie
sie uns Kinder ohne jede Pension oder ähnliches durchbrachte, und wie
sie darauf verzichtete, den Vater in irgendeiner Art und Weise in den
Himmel zu heben, rechne ich ihr heute noch hoch an.
Sie erwarteten lange Jahre, dass Deutschland die Rechnung für
seine Verbrechen noch gestellt bekommen würde, äußerten sich zuletzt
aber optimistischer. Kündet die Ablehnung, die Deutschland in der
Euro-Krise erfährt, die Wiederkehr alter Feindbilder von einer
kommenden Abrechnung oder ist dies nur noch ein schwacher Nachhall?
Frank: Das Verhalten unserer Regierung in der Krise ist einfach
nur schauderhaft. Ich kann mich heute noch über den Satz von Volker
Kauder auf dem Höhepunkt der Krise aufregen: „Jetzt spricht Europa
deutsch“. Und wie können Außen- und Wirtschaftsminister angesichts
der Forderung aus Athen über eine Rückzahlung der damaligen
Zwangsanleihe einfach sagen: „Das ist alles längst erledigt!“?
Deutschland ist so reich. Wir sollten unabhängig von rechtlichen
Erwägungen, allein aus moralischen Gründen den Griechen
entgegenkommen. Das ist der Grund, warum ich das Foto meines toten
Vaters bei mir trage: Da lebt er heute noch, da kommt seine
Herrenrassen-Attitüde wieder noch. Ich stoße jedes Jahr Silvester an,
dass unsere Demokratie noch funktioniert. Trotzdem werde ich das
Gefühl nicht los, dass wir bisher nur eine Schönwetter-Demokratie
sind, deren Härtestest erst erfolgt, wenn wir mal Arbeitslosenzahlen
haben wie jetzt etwa Griechenland.
Sie haben das Bild Ihres gehenkten Vaters, Ihr Bruder Norman hatte
ein Öl-Porträt Ihres Vaters über dem Bett. Können Täterkinder nicht
aus dem Schatten ihrer Eltern treten?
Frank: Nein. Ich habe nie erlebt, wie es ist, als Sohn eines
Handwerkers, Lehrers oder Hilfsarbeiters aufzuwachsen. Auf eine
abwegige Art sind Sie als Kind eines Täters etwas Besonderes. Wenn
gegen Ihren Vater ein Jahr prozessiert wird und am Ende der Henker
steht, schließt Sie dies aus der Gruppe der Normalbürger aus. Wenn
Sie Ihre Eltern in Büchern öffentlich hinrichten und zu Lesungen
reisen, bekommen Sie am Ende Geschenke. So ist das, wenn man auf dem
Ticket eines Kriegsverbrechers fährt.
Für die Taten Ihres Vaters sind Sie nicht verantwortlich, wohl
aber mitverantwortlich für den Umgang mit ihnen. Sind Sie froh,
diesen schwierigen Weg gewählt zu haben oder haben Sie es schon mal
bereut?
Frank: Nein, ich habe es nie bereut. Obwohl mich Reaktionen schon
überraschten. Das Buch über meinen Vater war vor allem ein
politisches Buch, entstanden aus dem Zorn über das Schweigen
angesichts der Verbrechen trotz 68er-Generation. Ich musste meinem
Zorn freien Lauf lassen, alles rauskotzen ohne Rücksichtnahme und
Verbindlichkeiten. Ich hatte erwartet, dass das am ehesten meine
Journalistenkollegen verstehen – na, da habe ich mich aber getäuscht.
Wenn ich heute lange beklatscht werde, versuche ich den Blick wieder
auf die Opfer zu lenken. Ich bin nur der Sohn eines Verbrechers. Wo
aber bleiben sie?
Aber werden Sie nicht auch gefeiert, weil die Menschen anerkennen,
dass Sie stellvertretend für andere durch die Hölle der öffentlichen
Hinrichtung Ihrer Eltern gehen?
Frank: So habe ich es noch nie gesehen, aber da könnte etwas dran
sein.
↔Das Interview führte
↔Joachim Zießler
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