In seiner ersten allein verfassten Enzyklika 
„Laudato si“ fordert Papst Franziskus einen gewissenhafteren Umgang 
mit der Natur. Seine Ausführungen sorgen innerhalb der katholischen 
Kirche für Kontroversen. Dr. Rainer Hagencord hingegen lobt den 
„revolutionären und überzeugenden“ Vorstoß. Dr. Hagencord ist 
katholischer Priester und Zoologe, er leitet das „Institut für 
Theologische Zoologie“ in Münster. Er sagt: „Die Abkehr von der 
Haltung, sich die Erde untertan zu machen, ermutigt Umweltschützer.“
   Ist der Papst in Sachen Klimaschutz mittlerweile das 
konsequenteste Staatsoberhaupt?
   Dr. Rainer Hagencord: Als Autor der Enzyklika „Laudato si“ ist der
Papst nicht als Staatsoberhaupt unterwegs, sondern als jemand, der 
sich fragt, wie kann sich eine Theologie – und damit eine Kirche – 
gegenüber der ökologischen und sozialen Katastrophe verhalten. Welche
Theologie ist angemessen, dem zu begegnen? Aber tatsächlich hat der 
Papst als Staatsmann eine besondere Rolle, weil er das Privileg hat, 
nicht mit wirtschaftlichen Lobbys verknüpft zu sein. Er kann sich 
anders als andere Staatsoberhäupter sehr viel unabhängiger äußern. 
Das macht die Öko-Enzyklika sehr überzeugend.
   Wo verbanden sich Erkenntnisse der Forschung mit der christlichen 
Lehre?
   Dr. Hagencord: Was dem Papst gelang, war, Fachleute aus der 
Wirtschaft und der Klimaforschung vorab ins Boot zu holen. Er nutzt 
neueste wissenschaftliche Erkenntnisse, um von ihrem Boden einen 
Blick auf die Schöpfung zu wagen. Das ist spektakulär, haben wir uns 
doch an kirchliiche Verlautbarungen gewöhnt, die von Gott sprechen, 
ohne Bezug zu nehmen auf die Wissenschaften. Dies mit dem Anspruch, 
eine Wahrheit verkünden zu können, die davon unabhängig ist. Der 
Papst macht das Gegenteil: Er redet von der Schöpfung, was der 
ureigenste Auftrag der Kirche ist, nicht ohne diese Erkenntnisse 
hinzuzuziehen. Das ist revolutionär, vergleicht man es mit der Art, 
wie die Kirche etwa über Sexualität redet. Dort spielen Erkenntnisse 
der Humanwissenschaften keine Rolle. Die Kirche maßt sich an, ohne 
dieses Wissen darüber zu urteilen, was menschlich ist und was nicht. 
Als Vatikan-Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin die Zustimmung der 
Iren zur Homo-Ehe als „Niederlage für die Menschheit“ bezeichnet hat,
war dies tatsächlich eine Niederlage für die Kirche. Des weiteren 
geht der Papst mit seiner Enzyklika auf der Spur des Zweiten 
Vatikanischen Konzils voran, das die katholische Kirche schon vor 50 
Jahren gegenüber der Welt öffnete und forderte, die Sorgen und Nöte 
der Menschen ernst zu nehmen.
   Franziskus zitiert in seiner Enzyklika Amtsvorgänger und 
Bischofskonferenzen. Steht er in einer päpstlichen Tradition oder 
bricht er mit ihr?
   Dr. Hagencord: Er schafft es, eine Tradition herauszulesen. 
Tatsächlich hat bereits Paul VI. in der Enzyklika Populorum 
progressio das Elend der Menschen und der Natur in den Blick genommen
und die Kirche zur Solidarität aufgerufen. Benedikt XVI. hat im 
Bundestag von der „Würde der Erde“ gesprochen. Mit Bezug auf diese 
Quellen schafft Franziskus eine Kontinuität. Andere Passagen lesen 
sich dagegen eher revolutionär. So ist die Absage an die 
Anthropozentrik etwas Neues. Der Papst bestreitet, dass wir die Krone
der Schöpfung seien, dass die Erde für uns da sei. Er verlangt im 
Gegenteil eine Haltung der Mitgeschöpflichkeit. Ebenso revolutionär 
ist seine Absage an den Leib-Seele-Dualismus, der die herkömmliche 
Theologie in die Haltung führte, nur der Mensch habe eine 
unsterbliche Seele. Nach Franziskus verdunkele diese Haltung sogar 
das Bild Jesu. Er bricht mit einer Theologie, für die Tiere letztlich
nur noch Sachen waren.
   Ist die Abkehr vom alttestamentarischen „Macht Euch die Erde 
untertan“ vorbildlich für die Regierungschefs, denen trotz vieler 
Klimakonferenzen der ultimative Wurf nicht gelingt?
   Dr. Hagencord: Es müsste zumindest den Politikern aus christlichen
Parteien zu denken geben, dass der Papst sich nun auf die Seite der 
Umweltschützer stellt, die die Ideologie einer Ausbeutung der Natur 
als Fehlinterpretation der biblischen Botschaft geißeln. Würde dies 
umgemünzt in politische Programme, hätte dies Folgen für die drei 
Welten, von denen der Philosoph Klaus Michael Meyer-Abich schrieb: 
die Nachwelt; die natürliche Mitwelt und die sogenannte Dritte Welt. 
Bisher sind diese drei Welten noch Opfer der christlich geprägten, 
westlichen Welt, die aus der Bibel die Annahme ableitete, die Erde 
sei für sie da.
   Die Enzyklika unterstreicht im Kern, wie sehr die soziale Frage 
von der Bewahrung der Umwelt abhängig ist. Kann der Vorschlag einer 
„integralen Ökologie“ auch wegweisend für Politiker sein?
   Dr. Hagencord: Obwohl die meisten Politiker einer Gleichrangigkeit
von Ökonomie und Ökologie das Wort reden, wird die Ökologie 
letztendlich stiefmütterlich behandelt. Dem setzt der Papst eine 
Theologie mit dem Gesicht zur Mehr-als-menschlichen-Welt entgegen. 
Und dies, nachdem der christliche Westen über 500 Jahre eine 
Theologie zementiert hat, die der nicht-menschlichen Welt den Rücken 
zugekehrt hatte. Der Papst will die Haltung des Respektes und der 
Mit-Geschöpflichkeit in den Mittelpunkt unseres Denkens rücken.
   Spiegeln sich in der Tatsache, dass dies offenbar Mittelpunkt 
seines Denkens ist, auch die argentinischen Wurzeln des Papstes 
wider? Vor allem in seiner Aufmerksamkeit für die Ärmsten, die auch 
die Verlierer des Klimawandels sein werden.
   Dr. Hagencord: Mit Sicherheit, wobei sich in der Enzyklika mehrere
biografische Spuren zeigen. Der Papst ist einer der letzten Vertreter
der Befreiungstheologie, die von seinen beiden Vorgängern in 
Lateinamerika verboten worden war. In den 80er-Jahren war die 
Befreiungstheologie in Lateinamerika eine sehr laute Stimme auf 
Seiten der Armen. Heute verknüpft Franziskus sein Eintreten für die 
Armen mit einem für die Mitwelt. Eine zweite Spur charakterisiert 
diese Enzyklika: die jesuitische. Denn Jesuiten verleugnen die 
Erkenntnisse der Wissenschaft nicht, sondern berücksichtigen sie. 
Jesuiten predigen einen Glauben, der auch zuhört und nicht immer 
schon alles besser weiß. Die dritte Spur ist, dass sich der Papst als
Mann des Konzils versteht, also die Sorgen der Menschen ernst nimmt.
   Der Papst weist dem Konsum in den Ländern des Nordens die 
Verantwortung für das Leid im Süden zu. Wird das der Lage mit 
energiehungrigen Schwellenstaaten wie Indien und China noch gerecht?
   Dr. Hagencord: Das ist eine schwierige Frage, zumal diese Länder 
in ihrem Drang nach Wachstum ohne Grenzen vom westlichen Denken 
geimpft wurden. Ältere Traditionen werden so zugeschüttet: So 
ernähren sich in Indien Millionen Hindus seit jeher vegetarisch in 
dem Versuch, im Einklang mit der Natur zu leben. In China schreitet 
die „McDonaldisierung“ des Lebens voran, weil viele glauben, der 
Verzehr von Fleisch, das Tiere aus Massentierhaltung liefern mussten,
gehöre zu einem gehobenen Lebensstil. Also werden auch in diesen 
Schwellenländern die Folgen westlichen Denkens deutlich.
   Kann einer Forderung nach einer „Rezession in gewissen Teilen der 
Welt“ Erfolg beschieden sein, wenn man sieht, wie hartnäckig mögliche
Wachstumsdämpfer wie Griechenland-Soli oder Kohleabgabe bekämpft 
werden?
   Dr. Hagencord: Das sind Punkte, in denen die klar formulierte 
Parteinahme des Papstes auf die reale Welt trifft. Der Papst hat es 
in seiner Enzyklika geschafft, sich nicht als Fachmann aufzuspielen, 
der den Politikern konkrete Handlungsanweisungen gibt. Vielmehr wirft
er seine Autorität in die Waagschale, um damit christliche Politiker 
erst mal auf den Weg zu schicken. Ich verstehe den Papst auch nicht 
als Optimisten, sondern als jemanden, der eine Hoffnung hat. In 
diesem Punkt liefert er ein großes Vorbild.
   Der Papst benützt Ergebnisse wissenschaftlicher Studien zum 
Klimawandel, kanonisiert sie quasi. Vermag er so auch 
Klimawandelskeptikern – gerade in den USA – Vorbild sein?
   Dr. Hagencord: Ich fürchte, nein, weil sich schon jetzt in diesen 
Kreisen enormer Widerstand gegen diese Enzyklika aufbaut. Indem der 
Papst kapitalismusnahen Theologien Denkfiguren genommen hat, die für 
ihr Weltbild grundlegend sind, wie den Anthropozentrismus und das 
dualistische Denken, wonach nur der Mensch eine unsterbliche Seele 
hat, entzieht er ihnen die theologische Legitimation für ihr 
bisheriges Wirken. Hier wendet sich der Papst erneut ab von einer 
hermetischen Theologie, die nur um sich selbst kreist.
   Ist der Grundton der Enzyklika deutlich pessimistischer als man es
von einem Christenmenschen erwarten würde?
   Dr. Hagencord: Im Gegenteil. Franziskus zeigt eine Haltung, die 
sich von dem, was in der Welt passiert, nicht lähmen lässt, die nicht
zynisch wird. Ausweislich seiner Enzyklika nimmt der Papst die 
ökologische Bedrohung der Welt wahr und folgert: Eine andere Haltung 
zur Natur liegt nahe. Damit spricht er auch ganz tiefe Sehnsüchte der
Menschen an, macht ihre Hoffnung stark. Dass er nichts ausspart und 
nichts schönredet, stärkt eine Hoffnung, die uns leben lässt. All 
denen, die schon bisher nicht verzagten, die sich für die Belange der
Natur engagierten, macht dieser Mann enorm Mut.
Das Interview führte Joachim Zießler
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