Landeszeitung Lüneburg: Mindestlohn befriedet Branchen / Arbeitsministerin Ursula von der Leyen pocht aber auf tarifliche Lösungen und will gegen ScheinwerkvertrÌge vorgehen

Minijobs, Leiharbeit, Mindestlöhne,
Familiensplittung, Lebensleistungsrente – Bundesarbeitsministerin Dr.
Ursula von der Leyen hat viele Baustellen. Die CDU-Politikerin sieht
sich als VorkÌmpferin fär Familien und Geringverdiener. Und das will
sie auch nach der Bundestagswahl bleiben. Sollte Schwarz-Gelb erneut
die Regierung stellen, wird es eine Frauenquote für Aufsichtsräte
börsennotierter Unternehmen geben, kündigt die Ministerin an.

Vorausgesetzt, Schwarz-Gelb bleibt an der Macht und Ursula von der
Leyen weiter Arbeitsministerin: Wird es nach der Bundestagswahl einen
gesetzlichen Mindestlohn geben und wie wird dieser aussehen?

Dr. Ursula von der Leyen: Wir müssen etwas gegen Dumpinglöhne in
unserem Land tun. Mir ist wichtig, dass wir den Mindestlohn richtig
gestalten – nämlich dass wir keinen politischen Mindestlohn im
Parlament festlegen, sondern in der guten Tradition der Sozialen
Marktwirtschaft Gewerkschaften und Arbeitgeber sich in einer
Kommission zusammensetzen, in der sie den Mindestlohn aushandeln
müssen. In dieser Legislaturperiode sind bereits fünf neue
Branchen-Mindestlöhne eingeführt worden, zum Beispiel in der Pflege
und in der Zeitarbeit. Und das hat gut funktioniert.

Die Gewerkschaften sind in manchen Bereichen aber kaum noch
durchsetzungsfähig. Sind die Tarifparteien wirklich die richtigen
Gesprächspartner für die Höhe von Mindestlöhnen? Großbritannien hat
gute Erfahrungen mit einer Kommission gemacht, die unabhängig von
Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern ist…

Von der Leyen: Ich bin eigens nach Großbritannien gereist, um mir
dort ein Bild von der Mindestlohn-Kommission zu machen. Und dies ist
genau das Vorbild, das wir haben. Die Schwäche ist derzeit in der
Tat, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber in manchen Bereichen keine
fairen Löhne mehr durchsetzen können. Das sind die sogenannten weißen
Flecken. Wir wollen die Mindestlohnhöhe in die Hände einer Kommission
mit Arbeitgebern und Gewerkschaften legen – in Großbritannien ist
zusätzlich die Wissenschaft dabei. Die Politik sorgt dann dafür, dass
sich alle daran halten müssen. Dieses Prinzip haben wir etwa in der
Pflege angewandt. Hier haben neben den Tarifpartnern auch die Kirchen
mit am Tisch gesessen und nach langen Gesprächen einen Mindestlohn
ausgehandelt. Das war ein großer Schritt und hat die Branche wirklich
befriedet.

Auch bei Branchenzuschlägen für Zeitarbeiter setzen Sie auf
tarifliche Lösungen. Selbst Gewerkschaften wie ver.di und NGG
kritisieren den Abschluss in der Metall- und Elektroindustrie, weil
z.B. im Dienstleistungssektor viele Leiharbeiter weniger als sechs
Wochen beschäftigt sind – die Flexibelsten gehen also leer aus.

Von der Leyen: Im Gesetz steht der Grundsatz: Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit. Es sei denn, Gewerkschaften und Arbeitgeber
verabreden etwas anderes. Und dafür müssen sie gute Gründe haben. Die
Tarifparteien sind also immer mit in der Verantwortung, wenn der Lohn
abweicht. Mein Drängen war, dass sie diese Verantwortung auch ernst
nehmen und Branchenzuschläge verabreden, damit auf Dauer Zeitarbeiter
den gleichen Lohn bekommen wie Stammbeschäftigte. Das hat in neun
Branchen funktioniert. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den
Branchen und Tätigkeiten, etwa bei der Einarbeitungszeit. Auch hier
können die Tarifparteien am besten beurteilen, ab welchem Zeitpunkt
der gleiche Lohn wie für die Stammbelegschaft angemessen ist.

Bei diesen Arbeitsverhältnissen geht es nicht nur um Geld, sondern
auch um die Lebensbedingungen der Beschäftigten. Wie wollen Sie gegen
die jüngst bekannt gewordenen teils menschenunwürdigen Bedingungen in
der Fleischindustrie, bei Amazon oder der Meyer Werft vorgehen?

Von der Leyen: Es ist nicht zu akzeptieren, dass Schindluder mit
den Beschäftigten getrieben wird. Allerdings sind die genannten Fälle
sehr unterschiedlich. Bei Amazon war es ein Problem der Leiharbeit
und dort sind existierende Regeln verletzt worden. Da geht es um
wirksame Kontrollen und gegebenenfalls empfindliche Sanktionen. Das
ist auch geschehen. In der Fleischindustrie haben wir ein neues
Phänomen, nämlich dass „schwarze Schafe“ unter den Arbeitgebern
versuchen, sich ihrer Verantwortung zu entziehen, indem sie
massenhaft Werkverträge abschließen. Wir prüfen im Augenblick, ob das
Scheinwerkverträge sind, die Leute wie Stammbeschäftigte in den
Produktionsfluss eingegliedern und damit in Wahrheit Leiharbeiter
sind. Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt: Wir haben viele
Arbeiternehmer mit Werkverträgen, die aus dem europäischen Ausland
kommen. Hier können wir den Dumpinglöhnen nur beikommen, wenn wir in
der Branche einen Mindestlohn einführen und nach dem
Arbeitnehmerentsendegesetz für allgemeinverbindlich erklären. Nur
dann ist er für alle verbindlich — auch für Arbeitnehmer aus
Bulgarien oder Rumänien. Gewerkschaften und Arbeitgeber wollen einen
Mindestlohnvertrag übrigens auch deshalb aushandeln, weil sie das
Schmuddel-Image der Fleisch-Branche loswerden wollen.

Welchen Einfluss haben Sie auf die „moderne Sklaverei“ etwa bei
Apple-Zulieferern Foxconn und Pegatron oder in den Textilfabriken in
Bangladesch, deren Produkte hierzulande sehr begehrt sind?

Von der Leyen: Wir können dem Fabrikbesitzer in Bangladesch
genauso wenig Vorschriften machen wie die indische Regierung einem
Schraubenhersteller in Baden-Württemberg. Aber es gibt internationale
Abkommen über Arbeitsbedingungen und auch über Menschenrechte, über
die die UNO wacht. Es gibt aber noch etwas Wirksameres, und das ist
die Macht der Verbraucher. Ich glaube, wir müssen konsequent von den
Firmen, bei denen wir hier kaufen, einen Verhaltenskodex einfordern,
der faire Bedingungen für ihre Geschäfte garantiert. Und wenn wir
einer Marke nicht vertrauen, sollten wir sie nicht kaufen.

Das kann der Verbraucher aber kaum kontrollieren. Welche Handhabe
hat der Staat?

Von der Leyen: Im Herbst 2010 haben wir die „Nationale Strategie
zur gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen“ ins Leben
gerufen. Firmen bekennen sich zu ihrer gesellschaftlichen
Verantwortung und verpflichten sich zu fairen
Herstellungsbedingungen. Es kann dafür mit einem Gütesiegel werben.
In Zeiten des Internets ist aber jeder mündige Bürger in der Lage,
konkret zu fragen: Was tut eine Firma dafür, dass zum Beispiel keine
Kinderarbeit in den Produkten steckt? Das ist etwas aufwendiger, aber
es wirkt.

Im Juli waren Sie Gastgeberin eines EU-Jobgipfels in Berlin. Was
können die Arbeitsminister der Gemeinschaft von Deutschland lernen?

Von der Leyen: Wir haben in Deutschland erfreulicherweise die
niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Wir haben aber nicht
vergessen, dass wir vor zehn Jahren der kranke Mann Europas waren.
Daraus haben wir Lehren gezogen. Ich habe mit den europäischen
Arbeitsministern drei wichtige Punkte besprochen. Erstens: Wenn wir
in Deutschland Ausbildungsplätze nicht besetzen können und im Süden
Europas junge Menschen verzweifelt Arbeit suchen, wollen wir
versuchen, Bewerber und Arbeitgeber zusammenzubringen. Das nützt
beiden. Zweitens: Eine unserer großen Stärken in Deutschland ist das
duale Ausbildungssystem – und dies wollen wir auch in Ländern wie
Italien, Spanien, Portugal, Griechenland oder Irland aufbauen. Denn
das ist eine Brücke in den Arbeitsmarkt für junge Menschen, die aus
der Schule kommen. Aber ein dritter Punkt ist genauso wichtig: Wir
wissen, dass es viele gute kleine und mittlere Unternehmen in den
eben genannten Ländern gibt. Sie würden gern Arbeitsplätze zur
Verfügung stellen und Aufträge annehmen, wenn sie Investitionskapital
zu moderaten Zinsen bekämen, statt die irre hohen Zinsen in ihren
Ländern zu zahlen. Deshalb haben wir die Europäische Investitionsbank
gebeten, diesen Firmen Kredite zu fairen Bedingungen zu gewähren. Wir
haben also einen Dreiklang verabredet: Mobilität, duale Ausbildung
und erschwingliche Firmenkredite.

Sie fordern auch einen Ausbildungspakt für Europa. Wie soll der
konkret gestaltet werden?

Von der Leyen: Wir müssen auch die europäische Wirtschaft
insgesamt in die Verantwortung nehmen. Der deutsche Ausbildungsmarkt
ist so stark, weil die gesamte deutsche Wirtschaft gesagt hat, jedes
Unternehmen trägt sein Scherflein dazu bei. Das kann man auch
europäisch denken. Wir haben viele Unternehmen in Deutschland, die
auch im europäischen Ausland produzieren und bereit sind, dort auch
Vorbild zu sein, anderen zu zeigen, wie man duale Ausbildung
organisiert. Wir als Politik müssen dazu die die Theorie, also die
Berufsschulen bereitstellen.

Die Zahl der Beschäftigten mit einem Zweitjob hat sich in
Niedersachsen innerhalb von zehn Jahren verdoppelt. Auch wenn die
Gründe noch umstritten sind – ist dieser Anstieg nicht ein klares
Signal für eine Sozialversicherungspflicht?

Von der Leyen: Von den Zweitjobs ist ein Teil auch
sozialversicherungspflichtig. Aber im Grundsatz haben Sie recht. Die
Minijobs sind sehr beliebt in der Bevölkerung. Weil man weiß, was man
netto verdient. Aber sie bergen das Risiko, dass man seine
Rentenversicherung vernachlässigt. Und diese Jahre holt man nie
wieder auf. Deshalb haben wir in dieser Legislaturperiode eine
Änderung auf den Weg gebracht: Bei den 450-Euro-Jobs ist man nun
automatisch rentenversichert – es sei denn, man tritt bewusst aus.
Vorher war es umgekehrt. Und weit über 90 Prozent haben vorher auf
die Rentenversicherung verzichtet. Seit die Neuregelung in Kraft
getreten ist, bleiben 25 Prozent der Minijobber rentenversichert.

Wird es nach der Bundestagswahl unter Schwarz-Gelb eine starre
Frauenquote für Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen geben?

Von der Leyen: Ich bin sicher, dass die Frauenquote kommt. Wir
haben zehn Jahre lang – so lange gibt es schon eine freiwillige
Vereinbarung – viel Geduld mit den großen Konzernen gehabt. Der
Mittelstand hat bewiesen, dass es geht. Inzwischen sind 30 Prozent
der Führungspositionen im Mittelstand von Frauen besetzt. In den
Konzernen sind die Zahlen viel zu gering. Deshalb brauchen wie klare
Ziele und Zeitleisten, nämlich dass 2020 in den Aufsichtsräten 30
Prozent Frauen sitzen müssen. Wir haben genügend qualifizierte Frauen
im Land. Das wird niemand bestreiten. Und es gibt keinen Grund, warum
das, was im Mittelstand geht, nicht auch in Konzernen möglich sein
sollte.

Für den Fall einer Großen Koalition werden Sie auch als
Außenministerin gehandelt. Ein Amt, das Sie reizt?

Von der Leyen: Ich bin sehr gerne Arbeitsministerin. Jetzt
gewinnen wir erst einmal die Wahl und dann sehen wir weiter.

Das Gespräch führte Klaus Bohlmann

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