Waffenruhe, Abzug von Kämpfern, Grenzkontrolle:
Nach 17 Stunden Nervenkrieg am Verhandlungstisch wurde der
Friedensplan unterzeichnet. Doch nicht nur Prof. Dr. Albert Stahel,
Professor für Strategische Studien an der Uni Zürich, hat Zweifel.
„Es ist zu befürchten, dass auch dieses Abkommen das Papier nicht
wert ist, auf dem es steht.“ Die von US-Politikern bevorzugte
Lieferung von Waffen an die Ukraine wäre dagegen ein
„ernstzunehmendes Signal an den Kreml gewesen, dass der Westen ihm
Einhalt gebieten will.“
Hat die deutsch-französische Pendeldiplomatie dem Frieden zum
Durchbruch verholfen oder nur den Sieg Putins in der Ostukraine
zementiet?
Prof. Dr. Albert Stahel: Wir haben ein zweischneidiges Ergebnis.
Verabredet wurde lediglich eine Waffenruhe. Es ist immerhin etwas,
dass sich die Separatisten auf die Waffenstillstandslinie
zurückziehen müssen, die im Abkommen von Minsk vom September 2014
beschlossen worden war. Aber schon dieses Abkommen war das Papier
nicht wert, auf dem es stand. Es ist zu befürchten, dass dies auch
für das neue Abkommen gilt. Putins Kompromissbereitschaft löste sich
in der Vergangenheit noch immer sehr schnell in Luft auf. Dank der
militärischen Unterstützung Russlands haben die Separatisten
mittlerweile eine weitgehende politische Unabhängigkeit der von ihnen
eroberten Gebiete in den Provinzen Donezk und Luhansk erreicht.
Nächstes Ziel ist vermutlich die vollständige Eroberung der beiden
Provinzen und, nach deren Abschluss entsprechend dem Modellfall
Süd-Ossetien und Abchasien, ihre Anerkennung als unabhängige
Republiken durch Russland. Putins eigentliche Ziele sind noch nicht
erkennbar, zumal der Kreml noch die Ergebnisse der
Appeasement-Diplomatie der Kanzlerin Merkel abwartet. Falls sich
US-Präsident Obama nicht der politischen Umarmung durch Deutschland
entzieht und sich für Waffenlieferungen entscheidet, kann die
ukrainische Armee die Aggression Russlands auf Dauer nicht abwehren.
Droht ein frozen conflict, den Moskau jederzeit nutzen kann, um
das westliche Bündnis zu spalten?
Prof. Stahel: In der Tat. Positiv daran kann sein, dass zumindest
das Blutvergießen endet. Negativ daran ist, dass es in Putins Hand
liegt, daraus jederzeit wieder einen heißen Konflikt machen zu
können. Schon jetzt haben wir ein gespaltenes Land. Doch es geht dort
um viel mehr als nur um ein, zwei Städte oder den Donbass als
Schwerindustrie-Gebiet. Die Beute ist vielmehr die Ukraine insgesamt.
Es geht um die Frage, ob sich die Ukraine dem Westen nähern darf oder
als Vorhof Russlands in Moskaus Einflussgebiet bleiben muss. Jetzt
behält Putin den Hebel in der Hand, das Land zu destabilisieren.
War die US-Diskussion um Waffen an Kiew ein ernstzunehmender
Versuchsballon Washingtons oder nur Theaterdonner?
Prof. Stahel: Das war mehr als Theaterdonner, weil die Forderung
in einer Studie erhoben wurde, die von drei großen wissenschaftlichen
Institutionen vorgelegt worden ist, und die Autoren sind ehemalige
Administrationsmitarbeiter der Regierung Clinton und Obama, die
durchaus Gewicht haben. Sie schlagen vor, dass die Vereinigten
Staaten jedes Jahr in den nächsten drei Jahren eine Milliarde
US-Dollar zur Verfügung stellen. Damit soll vorwiegend defensives
Material geliefert werden wie Drohnen, nicht abhörbare
Kommunikationssysteme und Artillerie-Ortungsradar. Als einzige
tödliche Waffe sind derzeit Panzerabwehrraketen im Gespräch.
Würde die Lieferung nichtletaler Systeme an Kiew die
Verhandlungsbereitschaft des Kreml erhöhen oder pulverisieren?
Prof. Stahel: Das würde als Warnsignal in Moskau Wirkung
entfalten. Zumal es Kiew in die Lage versetzt, die Wirkung der
Mehrfachraketenwerfer BM-21 einzudämmen, die derzeit die Stadt
Debaltseve, eine Transportdrehscheibe, Haus für Haus zertrümmern. Die
Botschaft an den Kreml wäre, dass der Westen bereit ist, dem Krieg
Einhalt zu gebieten.
Wird in der Ukraine noch ein unterschwelliger, hybrider Krieg
geführt oder bereits ein klassischer?
Prof. Stahel: Der hybride Krieg, in dem vor allem Spezialeinheiten
eingesetzt wurden, endete zum Jahreswechsel. Seitdem sind die
Separatisten und ihre Berater zum offenen Krieg übergegangen. Wie
sich bei der Eroberung des Flughafens von Donezk zeigte, sind sie zum
operativen Konzept der Kesselschlacht aus dem Zweiten Weltkrieg
übergegangen. Gleichwohl besteht die Gefahr russischer
Destabilisierungsaktionen unterhalb der Kriegsschwelle weiter, etwa
für die baltischen Staaten.
Hätte die Lieferung moderner westlicher Waffen überhaupt Sinn ohne
vorheriges Training oder sollen Ex-Warschauer-Pakt-Staaten in der
NATO ihre alten sowjetischen Waffen liefern?
Prof. Stahel: Die alten sowjetischen Panzerabwehrwaffen muss man
gegenüber modernen russischen Panzern vom Typ T-80 als wirkungslos
betrachten. Die von der NATO möglicherweise zu liefernden
„Fire-and-Forget“-Lenkraketen vom Typ FGM-148 Javelin sollen bereits
nach kurzer Einweisung handhabbar sein. Das wäre also keine Hürde. In
der 17-seitigen US-Studie wird allerdings vorgeschlagen, dass
Ex-Warschauer-Pakt-Staaten im westlichen Bündnis ihre alten
sowjetischen Luftabwehrwaffen in die Ukraine liefern sollten. Die
wären durchaus noch schlagkräftig, falls Russland aktiv mit Jets in
den Krieg eingreift.
Welchen Sinn hätten US-Waffenlieferungen gehabt angesichts der
sehr viel kürzeren Nachschubwege aus Russland für die Separatisten?
Prof. Stahel: In der Debatte ging es ja lediglich um Führungs- und
Aufklärungsmittel sowie um Panzerabwehrwaffen. Die hat die US-Army in
ihren Beständen in Europa, speziell Deutschland. Die Versorgung der
Ukraine wäre also machbar. Logistische Anmarschwege spielen erst eine
Rolle in Kriegsszenarien wie etwa durch den Feldzug des IS in Syrien
und dem Irak.
In der russischen Militärdoktrin von 2010 ist festgelegt, dass das
Heranrücken von NATO-Strukturen als Bedrohnung gesehen würde. Wie
groß ist die Gefahr, dass der Ausbau der Speerspitze den Konflikt
anheizt?
Prof. Stahel: Da wird lediglich ein Vorwand propagandistisch
aufgeheizt. Mit dieser Argumentation müsste Moskau ja bereits die
NATO-Mitgliedschaft von Polen und den baltischen Republiken als
Kriegsgrund betrachten. Der Kreml weiß ganz genau, dass die heutige
NATO für Russland keine Bedrohung darstellt. Nach außen wird dennoch
gerne über die Kanäle im Westen eine andere Wahrnehmung, werden
Einkreisungsängste behauptet. Das ist sowohl außenpolitischer Hebel
als auch innenpolitisches Mobilisierungsinstrument. Würde der Westen
die Ukraine darin unterstützen, sich gegen die besser ausgerüsteten
Separatisten zu behaupten, kann das auch aus Moskauer Sicht nicht
wirklich bedrohlich wirken. Eine Panzerabwehrrakete ist keine
Offensivwaffe.
Die Petro-Rubel tröpfeln nur, die Modernisierung von Gesellschaft
und Armee hakt. Überdehnt Russland seine Kräfte im Ringen mit dem
Westen wie einst die Sowjetunion?
Prof. Stahel: Jein, es kommt darauf an, welchen Zeitraum man
analysiert. Moskau will bis 2020 über 1000 Milliarden Rubel in seine
Streitkräfte stecken. Solange das in Rubel geschieht, mag das
funktionieren. Langfristig lauern dagegen Probleme, weil Russland bei
seiner Aufrüstung der Armee nur sehr wenig in Forschung und
Entwicklung neuer Waffensysteme investiert. Was jetzt umgesetzt wird,
sind zumeist Projekte, die man noch aus der Ära Jelzin in der
Pipeline hatte. Jetzt kann sich der Kreml noch mit neuen Waffen
blenden, aber nach 2020 wird dies angesichts der fehlenden Innovation
schwieriger.
Kämpfer ohne Hoheitsabzeichen in der Ukraine, US-Söldnerfirmen im
Irak: Lagern Großmächte die Kriegführung künftig öfter aus?
Prof. Stahel: In der Tat, ein weiteres Beispiel wäre der Krieg,
den die Peschmerga und die irakische Armee gegen den IS führen.
Gerade die westlichen Gesellschaften verkraften es immer weniger,
wenn ihre Soldaten im Kampf fallen. Die Auslagerung umgeht dieses.
Ist Deutschlands Veto gegen Waffenlieferungen Ausdruck der
antimilitaristischen Grundhaltung nach dem Krieg oder eines
besonderen Verhältnisses zu Russland?
Prof. Stahel: Sowohl als auch. Es ist verständlich, dass
Deutschland nach den Erfahrungen zweier Weltkriege nicht mehr
leichtfertig aufs Militär setzt. Andererseits will Berlin das
besondere politische und wirtschaftliche Verhältnis zu Russland nicht
gefährden. Die Bundesregierung stellt sich so in eine
Kontinuitätslinie, die über das Verhältnis von Preußen zum Zarenreich
über den Rapallo-Vertrag zwischen Weimarer Republik und Sowjetunion
bis heute reicht.
Hat Berlin noch nicht verstanden, dass Putins großrussischer Traum
die Kalte-Kriegs-Konstellation zurückgebracht hat?
Prof. Stahel: Ich vermute, dass die Kanzlerin zwar genau weiß, wie
Putin tickt, aber dennoch bestrebt ist, ihn einzuhegen oder
zumindestens, Zeit zu gewinnen. Das Problem ist, dass diese Rechnung
nicht aufgeht. Putin hat ein zentrales Ziel, die Wiederherstellung
einer Art Sowjetunion light. Für ihn war der Zusammenbruch der UdSSR
das größte Drama des zwanzigsten Jahrhunderts. In diesem Punkt will
er das Rad der Geschichte zurückdrehen.
Hat die EU Putins Ambitionen ignoriert, als es der Ukraine ein
Assoziierungsabkommen offerierte, ohne dies machtpolitisch
abzusichern?
Prof. Stahel: Das ist eine sehr gute Analyse. Tatsächlich lockte
die EU mit der langfristigen Beitrittsperspektive, ignorierte dabei
aber, dass Machtpolitik und Geopolitik immer noch zum Instrumentarium
von Staaten mit Großmachtambitionen gehören. Was in Berlin und
Brüssel übersehen wurde, war, dass es ohne machtpolitische Abstützung
keine Annäherung geben kann. Der größte Fehler war, dass die NATO den
Antrag der Ukraine auf Mitgliedschaft abgelehnt hat, obwohl dieser
von Washington unterstützt wurde. Denn ohne NATO-Mitgliedschaft der
Ukraine kann es keine EU-Mitgliedschaft geben.
Das Interview führte
Joachim Zießler
Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
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