Die Atomindustrie fordert die Bundesregierung
auf, mutig zu sein, und die Laufzeit der Atomkraftwerke zu
verlängern. Sind die Grünen ängstlich?
Steffi Lemke: Mut heißt im Verständnis der großen Atomkonzerne,
die ungelöste Endlagerfrage auf unsere Kinder und Enkel zu
verschieben. Die Atomlobby findet es offenbar auch mutig, Uraltmeiler
wie Krümmel oder Brunsbüttel trotz mehrerer meldepflichtiger
Störfälle länger laufen zu lassen. Atomkraftwerke, die zudem nicht
gegen Flugzeugabstürze gesichert sind. Und das, obwohl sich die
Betreiber noch vor ein paar Jahren auf einen Ausstieg bis 2021
verpflichtet haben, nicht zuletzt, um einen Verzicht auf eine
Brennelementesteuer durchsetzen zu können. Mit Mut hat das nichts zu
tun, sondern mit einer hochriskanten Gefährdung der gesamten
Bevölkerung. Davor sollte uns allen angst und bange werden, ansonsten
gehen die Grünen gewohnt selbstbewusst die Konfrontation mit den
Atomkraftbefürwortern ein.
Reden wir nur über Laufzeitverlängerungen, weil Rot-Grün versäumt
hatte, neben dem Ausstiegsdatum 2021 ein überzeugendes Energiekonzept
für Deutschland vorzulegen? Lemke: Natürlich nicht. Wir reden über
die Laufzeitverlängerungen, weil die Bundesregierung vor der
milliardenschweren Macht der vier großen Atomkonzerne eingeknickt ist
und den Atomkonsens wieder aufgeschnürt hat, um den Staatshaushalt
auf Kosten der Sicherheit zu sanieren. Tatsächlich geht der Ausbau
von Wind-, Solar-, Biogas-Energie noch schneller voran, als wir
damals angenommen hatten. Wenn wir den Ausstieg aus der Kernenergie
am Aufbau der Erneuerbaren festmachen wollten, können wir ohne
Einbußen früher aussteigen. Derzeit verstopft Atomstrom die Netze und
bremst den Ausbau der erneuerbaren Energien.
Laut Deutscher Energieagentur steuern wir aber auf
Versorgungsengpässe zu, weil die Annahmen über den Ausbau der
Erneuerbaren Energien zu optimistisch waren… Lemke: …was nicht
stimmt, denn in Deutschland wird so viel Strom produziert, dass er
sogar exportiert wird. Auch die Ausfälle der Atomkraftwerke wegen
des Wetters in diesem Jahr, bei denen ungefähr 16 Prozent Atomstrom
weniger produziert wurden, zeigen, dass ohne Kernenergie bei weitem
nicht die Lichter ausgehen. Wir haben ausreichend Überkapazitäten.
Zudem werden bereits jetzt angesichts der Diskussion um
Laufzeitverlängerungen Investitionen in erneuerbare Energien
zurückgehalten. Deshalb haben sich der Verband der deutschen
Maschinen- und Anlagenbauer wie der Verband der Stadtwerke gegen eine
Laufzeitverlängerung ausgesprochen. Die von der Energieagentur
behauptete Stromlücke wurde aus guten Gründen von Umweltminister
Röttgen nicht aufgenommen.
Spricht das Votum der Maschinenbauer nicht dafür, seinen Mut eher
dafür aufzubringen, das Oligopol der vier Energieriesen aufzubrechen?
Lemke: Das ist ja eine unserer wesentlichen Forderungen, weil dieses
Oligopol eine zügige Energiewende behindert, indem es auf Atomkraft
und den Bau neuer, unnötiger Kohlekraftwerke setzt. Einspeiser des
Stroms aus erneuerbaren Energien kämpfen immer wieder mit politisch
verursachten Unsicherheiten. Es fehlt der Drive, eine schnelle
Energiewende voranzutreiben, um diese Technologien weiter exportieren
zu können. Die Macht- und Profitinteressen der vier Energieriesen
stehen hier eindeutig gegen die klein- und mittelständischen
Maschinen- und Anlagenbauer.
Wie bewerten Sie Röttgens Kampf, der gegen große Teile seiner
Partei eine nur kurzfristige Verlängerung durchsetzen will? Lemke: In
meinen Augen ist der Umweltminister nur ein grünes Feigenblatt. Auch
die Diskussion um die Brennelementesteuer zeigt immer wieder, wie
diese Bundesregierung vor der Atomlobby auf die Knie geht. Das alles
sind aus meiner Sicht Ablenkungsmanöver, die vernebeln sollen, dass
die Kernkraftwerkbetreiber einen Vertrag aufkündigen, um
Milliardengewinne einzufahren. Das Risiko und die Kosten tragen die
Bürger, die Gewinne die vier Konzerne. Aussagen, es handele sich bloß
um eine Brückentechnologie und man würde Vorteile an die Stromkunden
weitergeben, und Geld in den Staatsetat einspeisen, sind nicht mehr
als PR-Lügen.
Die Bundesregierung will den neuen Energiekurs auf Basis des jetzt
vorgelegten Gutachtens festlegen. Was erwarten Sie? Lemke: Die zuvor
absolvierte Energiereise der Kanzlerin erwies sich als zynisch:
Während sie Betreiber Erneuerbarer Energien besuchte, bereitete die
Regierung die Verlängerung der Atomkraftwerklaufzeiten um 12 bis 20
Jahre vor. Für die Galerie präsentiert sich die Bundesregierung etwas
in grün, hält aber weiter an Kohle und Atom fest.
Ist das nicht frustrierend: Jahrelang auf den Ausstieg
hingearbeitet zu haben und dann wieder von vorne zu beginnen? Lemke:
Frust ist für mich keine politische Kategorie. Wir werden Frau Merkel
und den Akw-Betreibern einen heißen Herbst bereiten. Sowohl auf der
Straße als auch im Parlament und vor Gericht werden wir versuchen,
die Laufzeitverlängerung zu verhindern. Die sechs Landtagswahlen des
kommenden Jahres – unter anderem in Baden-Württemberg mit
Ministerpräsident Mappus als selbsternannter Speerspitze der
Atombewegung – werden wir unter anderem zu Abstimmungen über die
Atomfrage machen.
Welche Optionen haben die Grünen, wenn Schwarz-Gelb am Bundesrat
vorbei die Laufzeiten verlängert? Lemke: Wir werden das Konzept des
Kabinetts juristisch überprüfen lassen, sobald es vorliegt. Eine
Umgehung der Länderkammer erscheint in dieser Frage per se
fragwürdig. Ich habe die Hoffnung, dass Einsicht und Vernunft nicht
von Schwarz-Gelb aufgehalten werden können. Wir müssen raus aus Atom,
Kohle und Öl.
Sie haben die schwarz-grüne Koalition in Hamburg mal als
Sonderfall bezeichnet, weil die dortige CDU moderne Großstadtpartei
sein will. Bleibt es bei dieser Einschätzung nach dem Abgang von
Beusts? Lemke: Das ist eine offene Frage, die Herr Ahlhaus jetzt
beantworten muss. Angekündigt hat er einen Modernisierungskurs. Daran
werden wir ihn messen. In der Tat habe ich Respekt vor dem, was Ole
von Beust in der Bildungs-, Sozial- und Energiepolitik vertreten hat.
Aber damit steht er in der CDU sehr alleine. Es bleibt eine offene
Frage an die CDU, wie schnell sie sich in Sachen Energie- und
Gesellschaftspolitik modernisieren kann. Wirtschaftskrise und
Klimawandel machen deutlich, dass wir nicht auf die CDU warten
können.
Können Sie mit einer SPD koalieren, die neue Kohlekraftwerke will?
Lemke: Wir sind gegen neue Kohlekraftwerke, weil diese nur den
Umstieg auf die erneuerbaren Energien verzögern. Es würden
Investitionen gebunden, die wir für die Erneuerbaren brauchen.
Deshalb werden wir mit jeder Partei ringen, sei es die SPD oder die
CDU, die auf das Auslaufmodell Kohle setzt.
Der schnelle Ausbau erneuerbarer Energien wird den Strompreis
verteuern. Werden die Bürger ihren Kurs mitgehen? Lemke: Da mache ich
mir keine Sorgen. Das Bewusstsein, dass wir eine andere
Energieversorgung brauchen, ist doch viel stärker bei den Menschen
verbreitet, als die schwarz-gelbe Regierung denkt. Aber noch einmal:
Die Kunden zahlen heute schon einen dauerhaft zu hohen Strompreis,
weil vier Konzerne den Markt und die Preise diktieren. Die
Bundesregierung zementiert diese Vormachtstellung und ist somit der
eigentliche Preistreiber. Wir Grüne setzen auf stärkeren Wettbewerb,
um die Preisfrage zu regeln. Und allen, die auf Kostensteigerungen
durch den Ausbau der Erneuerbaren Energien verweisen, sei gesagt,
dass die Atom- und Kohlekraftwerksbetreiber sämtliche Nebenkosten
ihrer Technologie unter den Teppich kehren. Die Kosten, die ein nicht
eingedämmter Klimawandel verursacht, sind immens, und niemand weiß
beispielsweise, woher das Geld für die Sanierung des maroden
Atommüllagers Asse kommen soll. Selbst Kanzlerin Merkel räumt ein,
dass Kohle und Atom Sackgassentechnologien sind. Dennoch will sie
noch ein paar weitere Jahre mit Tempo 100 in diese Sackgasse rasen.
Es wird unendlich viel Mühe und Kraft kosten, aus dieser Sackgasse
wieder heraus zu kommen.
Dem widerspricht, dass zu dem Widerstand gegen Windkraftanlagen
jetzt auch noch das Aufbegehren von Anwohnern gegen Biogas-Anlagen
kommt. Ist öko nur in, wenn es andere trifft? Lemke: Nein, das wäre
eine falsche Interpretation der Anliegen der Bürgerinitiativen.
Selbstverständlich muss man auch bei Windkraft und Biogas darauf
achten, das Maß einzuhalten. Man kann nicht blind in eine neue
Technologie hineinlaufen, ohne darauf zu achten, was die Bürger
überfordert. Schiebt man Auswüchsen wie Massentierhaltung einen
Riegel vor, wird auch Biogas künftig nutzbar sein. Im Endeffekt
können wir die Erneuerbaren so stark ausbauen, dass sie in wenigen
Jahren 100 Prozent unseres Energiebedarfs tragen können. Diese
Entwicklung ist nicht aufhaltbar — auch nicht vom Kabinett Merkel
und den Energieriesen. Aber sie entscheiden im Moment darüber, wie
gefährlich und teuer dieser Weg letztendlich wird.
Das Interview führte Joachim Zießler
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