Die Attentate von Paris haben die Welt geschockt.
Millionen Menschen – auch in arabischen Ländern – sind auf die Straße
gegangen, um gegen Gewalt, gegen Rassismus und für Pressefreiheit zu
demonstrieren. Doch dieses beachtliche Zeichen wird nicht ausreichen.
„Wir müssen uns sicherlich auf mehr Anschläge einstellen“, sagt der
Kieler Politikwissenschaftler und Terrorismusexperte Prof. Dr.
Joachim Krause im Gespräch mit unserer Zeitung. Anschläge, die von
kleinen Terrorzellen oder von Einzeltätern verübt werden, die auch
unabhängig von den großen Terrororganisationen Al-Kaida und IS
Attentate vor Ort planen und durchführen.
Zwei der drei Attentäter von Paris haben angegeben, ihre Tat im
Namen des jemenitischen Ablegers der Al-Kaida begangen zu haben,
einer im Namen der Terrormiliz IS. Ist damit eine neue Stufe im
Machtkampf zwischen den beiden Terrororganisationen erreicht?
Prof. Dr. Joachim Krause: Es war zu erwarten, dass sich Al-Kaida
mit einem spektakulären Anschlag in den Vordergrund drängt, nachdem
der Islamische Staat IS in den vergangenen Monaten die meiste
Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Von daher kommt auch das
Bekennervideo von Al-Kaida nicht überraschend. Andererseits rechnete
sich einer der Attentäter dem IS zu. Nach dem bisherigen
Erkenntnisstand spricht nichts dafür, dass der Anschlag koordiniert
von Al-Kaida und IS vorbereitet worden war, sondern dass es sich um
eine Koordination unter Personen gehandelt hat, die sich schon vor
der Trennung von ISIS und Al-Kaida gekannt haben. Das könnte auch
bedeuten, dass die Kouachi-Brüder nicht sehr eng an Al-Kaida auf der
arabischen Halbinsel angebunden waren, sondern relativ unabhängig
operieren konnten.
Die meisten Terroropfer gibt es in den Regionen, in denen Al-Kaida
und IS „beheimatet“ sind. Warum hat der IS dennoch Zulauf und ist
nicht isoliert?
Prof. Krause: Der IS hat so viel Zulauf, weil er jetzt ein Kalifat
schafft, einen eigenen Staat. Das zieht viele Anhänger des
dschihadistischen Salafismus an, die glauben dort ihre Ideologie in
die Realität umsetzen zu können. Das ist vergleichbar mit dem Aufbau
eines kommunistischen Staates im bolschewistisch kontrollierten Teil
Russland ab 1917, was seinerzeit auch viele Marxisten aus aller Welt
anzog. Das andere, was IS attraktiv für viele junge Männer macht,
sind die Aussichten auf ungehemmte Gewaltanwendung und sexuelle
Beute.
Kleine Gruppen radikalisieren sich, planen Anschläge vor Ort und
führen sie aus – müssen wir uns im Westen auf mehr Anschläge nach dem
Muster von Paris einstellen? Sind die Terrornetzwerke unberechenbarer
geworden?
Prof. Krause: Man muss sich sicherlich auf mehr Anschläge
einstellen, die von einzelnen oder wenigen Tätern ausgeführt werden
und bei denen Netzwerke wirksam werden, die nicht fest geknüpft sind.
Derartige Anschläge können überall auftreten und sind schwer
vorhersehbar.
Eine große Gefahr geht nach Ansicht der Behörden von den
sogenannten „Dschihad-Rückkehrern“ aus, also von Personen, die etwa
Deutschland verlassen haben, um in den Heiligen Krieg zu ziehen und
irgendwann als ausgebildete Kämpfer zurückkehren. Wie groß ist Ihrer
Schätzung nach die Zahl dieser „Dschihad-Rückkehrer“?
Prof. Krause: Die deutschen Behörden gehen von mindestens 600
Deutschen oder aus Deutschland kommenden Personen aus, die sich
derzeit in Syrien oder im Irak bei Al-Kaida oder IS aufhalten.
Allerdings gibt es eine Dunkelziffer, die reale Zahl dürfte deutlich
höher sein. Darin sind noch nicht diejenigen eingerechnet, die
hierzulande die Rekrutierungsnetzwerke für den dschihadistischen
Nachwuchs betreiben. Das Gefährderpotenzial liegt eher bei 2000
Personen und mehr. Es sind nicht nur die Rückkehrer gefährlich,
sondern auch diejenigen, die noch hier sind. Wenn einer einmal zu
extremen Gewalttaten bereit ist, macht es keinen fundamentalen
Unterschied, ob er in Syrien und Irak war oder nicht. Deshalb bin ich
auch skeptisch, was den Vorschlag betrifft, Reisen zu verhindern,
indem man solchen Personen die Personalausweise entzieht. Das könnte
dazu führen, dass diese Personen Gewalttaten dann lieber gleich hier
verüben.
Was können, was sollten die Staaten gegen die neue Form des
Terrorismus tun?
Prof. Krause: Mit dem Strafrecht können deutsche Behörden nur
etwas gegen Personen unternehmen, bei denen der Nachweis geführt
werden kann, dass sie Mitglieder von Al-Kaida oder IS sind. Ansonsten
ist man auf Observierung angewiesen – mehr lässt der demokratische
Rechtsstaat nicht zu.
Wie sieht es aus mit dem Ruf aus den Reihen der Union nach einer
Neuauflage der Vorratsdatenspeicherung?
Prof. Krause: Das würde zwar nicht alle Probleme lösen, wäre aber
hilfreich. Polizei und Staatsanwaltschaften können nach einer
terroristischen Straftat mit Hilfe von Verbindungsdaten die Netzwerke
der Täter rekonstruieren, um Helfershelfer und weitere Verdächtige zu
identifizieren. Das kann auch der Prävention weiterer Anschläge
dienen. Das Beispiel des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU)
hat gezeigt, wie sehr Strafverfolgungsbehörden im Dunkel tappen, wenn
sie nicht auf diese Daten zurückgreifen können. Bis heute weiß man
nicht, in welches Netzwerk diese rechtsextremistische Gruppe
eingebunden war, weil es der Polizei nicht möglich war, Zugang zu
telefonischen Verbindungsdaten zu erhalten. Ich halte es für
verantwortungslos, dass die Bundesregierung nicht in der Lage ist,
eine grundgesetzkonforme Regelung zur Vorratsdatenspeicherung zu
treffen. Dabei haben das Bundesverfassungsgericht und der Europäische
Gerichtshof den Weg vorgegeben, die Bundesregierung müsste ihn nur
beschreiten.
Und der wäre?
Prof. Krause: Die Daten dürfen nur für einen kurzen Zeitraum von
wenigen Monaten gespeichert werden und müssen bei den Unternehmen
verbleiben. Der Zugang zu diesen Daten ist nur nach richterlicher
Anordnung im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens erlaubt. Das könnte
schon ausreichen, um Hintergründe einer Straftat aufdecken und
weitere Taten verhindern zu können. Es ist bedauerlich, dass das
Thema Vorratsdatenspeicherung von den Gegnern derart ideologisiert
worden ist, dass die Bundesregierung hier handlungsunfähig geworden
ist.
Es sind aber noch weitere Instrumente auf der Tagesordnung: Mehr
Macht für Geheimdienste, strengere Sicherheitskontrollen und
Sicherheitsvorschriften, aber auch schärfere Strafen werden
diskutiert. Wo sehen Sie die Trennlinie zwischen Besonnenheit und
Aktionismus?
Prof. Krause: Aktionismus ist zum Beispiel der Versuch,
Personalausweise einzuziehen oder Reisen von Verdächtigen in Länder
wie den Irak oder Syrien schon als Straftat zu werten. Das ist
rechtlich mehr als fraglich und kaum praktikabel. Ich sehe viel eher
die Notwendigkeit strafrechtliche Voraussetzungen zu schaffen, um
gegen Hassprediger wie Pierre Vogel vorzugehen, der Dutzende junger
Menschen radikalisiert hat. Noch wichtiger ist, dass wir Kapazitäten
schaffen, um Rückkehrer aus Syrien und dem Irak zu observieren.
Gibt es überhaupt genügend Personal, um solche Aufgaben zu
bewältigen?
Prof. Krause: Ich habe den Eindruck, dass die Bundes- und
Länderbehörden angesichts der Zahl an Rückkehrern und anderer
Verdächtiger hier schnell an ihre Grenzen kommen.
Mehrere Millionen Menschen haben nach den Anschlägen von Paris
gegen Gewalt, für Pressefreiheit und gegen Rassismus demonstriert –
auch in arabischen Ländern. Ist das ein wichtiges Zeichen oder nur
ein Strohfeuer bis zum nächsten Anschlag?
Prof. Krause: Es ist ein wichtiges Zeichen, dass möglichst viele
Menschen gegen diesen Terrorismus demonstrieren. Ich freue mich auch,
dass gerade in arabischen Ländern demonstriert wurde. Aber ich
bezweifele, dass die radikalen und gewaltbereiten Salafisten sich
davon beeindrucken lassen.
Nach dem damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff hat nun auch
die Bundeskanzlerin Angela Merkel betont, dass der Islam zu
Deutschland gehört. Kommt der echten Integration von Muslimen in
westlichen Ländern eine Schlüsselrolle zu?
Prof. Krause: Das, was von Frau Merkel und anderen Politikern
geäußert worden ist, ist richtig, gehört aber in die Abteilung
politische Symbolik. Entscheidend ist, was vor Ort in den
Problembezirken Berlins und anderer Städte geschieht. Es gibt enorme
Probleme bei der Integration junger Leute mit Migrationshintergrund,
die von Politik und Medien nicht wahrgenommen und teilweise
tabuisiert werden. Ich empfehle nur die Bücher des Neuköllner
Bürgermeisters Heinz Buschkowsky zu lesen. Viele salafistische
Gefährder kommen aus derartigen Problembezirken. Sie weisen oft einen
geringen Bildungsgrad auf und eine kleinkriminelle Vergangenheit. Man
muss sehr viel mehr machen in den Bereichen Jugendarbeit, schulische
Ausbildung und Bekämpfung der Kleinkriminalität.
Trotz der derzeit noch großen Unterschiede in vielen Bereichen von
der Justiz bis zur Pressefreiheit: Wäre ein EU-Beitritt der Türkei
ein wichtiger Schritt, ein wichtiges Signal an die Muslime?
Prof. Krause: Nein. Die Türkei wird der EU beitreten können, wenn
sie die entsprechenden Bedingungen erfüllt. Davon ist sie heute
weiter entfernt als noch vor wenigen Jahren.
Das Interview führte
Werner Kolbe
Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de