Landeszeitung Lüneburg: Tyrannensturz beunruhigt den Kreml / Ukrainischer Journalist Juri Durkot: Erfolgreiche, demokratische Ukraine wäre ein Gegenentwurf zu Putins Traum

In Kiew ist der erste Runde Tisch zur
Krisenbewältigung in der Ukraine ohne greifbares Ergebnis zu Ende
gegangen – ohne dass prorussische Separatisten eingeladen gewesen
waren. Der Westen erwägt, härtere Sanktionen zu verhängen. Der
ukrainische Journalist und TV-Produzent Juri Durkot kann sich manche
Putinversteher-Töne nur mit der „erfolgreichen russischen Propaganda“
erklären. Die Bewältigung der Krise durch die neu zu wählende
Regierung sei „eigentlich eine unlösbare Aufgabe“.

Glauben Sie der Ankündigung von Wladimir Putin, die Truppen von
der ukrainischen Ost-Grenze abzuziehen?

Juri Durkot: Moskau hat schon kürzlich angekündigt, die Einheiten
zurückzuziehen. Passiert ist aber nichts. Es ist ein offenes
Geheimnis, dass Russland die Separatisten in den östlichen Regionen
der Ukraine unterstützt – logistisch, finanziell, mit Waffen. Es sind
auch russische Bürger vor Ort, vermutlich vor allem ehemalige
Mitglieder von Spezialeinheiten. Sollten den deeskalierenden
Ankündigungen keine Taten folgen, spielt der Kreml lediglich auf
Zeit.

Sind die Krim und der Donbass für Kiew verloren?

Durkot: Im Nachhinein hat sich sogar für die Krim herausgestellt,
dass die Separatisten dort mit mehr Fälschungen gearbeitet haben, als
man zunächst vermutet hat. Die Krimtataren hatten unmittelbar nach
dem Referendum bereits auf Unstimmigkeiten hingewiesen. Nun hat auch
der Beirat für Menschenrechte des russischen Präsidenten einen
Bericht veröffentlicht, wonach an dem Referendum maximal 30 bis 50
Prozent teilgenommen haben. Und von diesen haben wiederum nur 50-60
Prozent für den Anschluss an Russland gestimmt. Die Krim-Regierung
hatte dagegen von 83 Prozent Wahlbeteiligung und 97 Prozent
Zustimmung für den Anschluss gesprochen. Im Moment hat Kiew dennoch
keine Chance, die Kontrolle über die Krim wieder zu errichten. Im
Ergebnis wird die Halbinsel lange in einem international nicht
anerkannten Status verharren. Das hat erhebliche Konsequenzen für den
Tourismus und die Investitionsbereitschaft von Unternehmern. Im
Donbass ist die Situation nicht direkt vergleichbar mit der Krim. So
sagen immerhin 2/3 der Menschen im Donezk-Becken, dass sie zur
Ukraine gehören wollen – möglicherweise als Region mit mehr
Kompetenzen. Etwa 27 Prozent sagten in dieser Anfang April gemachten
Umfrage, dass sie nach Russland wollen, fünf Prozent streben nach
einer autonomen Republik. Das Drittel, das sich nach Osten
orientiert, möchte im Grunde zurück in die Sowjetunion. Darunter sind
viele ältere Bürger, die von dem besseren Leben in ihrer Jugend
träumen, von der 3-Rubel-Wurst. Junge Menschen empfinden diese
Nostalgie nicht. Es ist kein Zufall, dass sich die Krise in der
Region Donezk zuspitzte. In drei von acht Regionen im Süden und Osten
gibt es eine deutliche Mehrheit für eine Annäherung an die EU. Aber
der Donbass tickt anders und er ist eine explosive Region. Wegen der
Geschichte, aber auch wegen der sozialen Lage. Nirgends sonst ist die
Kluft zwischen Arm und Reich so groß wie im Donbass. Nirgends sonst
wurden die Umverteilungskämpfe in den 90er-Jahren mit so viel
Brutalität und Toten geführt. Deswegen kann man die Krise nicht auf
die russische Intervention reduzieren. Es gibt eine tiefe
Verunsicherung der Bevölkerung sowie Oligarchen und Eliten, die ihr
eigenes Spiel spielen, sowie ein enormes Misstrauen und Ablehnung der
neuen Regierung in Kiew.

Müsste die Ukraine nicht sogar froh sein, die Region mit ihrer
maroden Schwerindustrie und ihrem sozialen Sprengstoff nach Russland
exportieren zu können?

Durkot: Schwierige Frage. Tatsächlich ist der Donbass zwar der
größte Stahl- und Kohleproduzent der Ukraine, zugleich aber auch der
größte Netto-Empfänger aus dem ukrainischen Haushalt. Die
Kohleindustrie ist eigentlich unrentabel. Die Kohle muss aus sehr
großer Tiefe gefördert werden, ist sehr methanhaltig, die Gruben sind
sehr unsicher. Strukturreformen gingen an dieser Region bisher
vorbei. Und die Menschen spüren, dass sich ihr Lebensstandard noch
mal verschlechtern würde, wenn ein Umbau der Wirtschaft versucht
würde. Gleichwohl kann man schlecht sagen, dass sich diese Region
abspalten soll, weil dies immer Menschen und Schicksale betrifft. Es
müssen bereits jetzt 3000 Flüchtlinge von der Krim untergebracht
werden. Das sind Tragödien. Was sich aber in beiden Regionen ändern
muss, ist die politische Kultur. Derzeit erleben wir dort ein
Höchstmaß an Intoleranz und Hass. Es geht soweit, dass Andersdenkende
gefährlich leben.

Inwieweit ist die EU mitverantwortlich an der Eskalation der
Krise, weil sie Kiew Avancen machte und so Einkreisungsängste im
Kreml schürte?

Durkot: Diese Einkreisungsängste existieren lediglich in den
Köpfen Putins und seiner Generäle. Nicht die EU ist schuld am
russischen Kurs, sondern das neoimperiale Denken in Moskau. Der Sturz
von Janukowitsch ist aus Sicht Putins in mehrerlei Hinsicht
gefährlich: In einem autokratischen Staat ist nicht vorgesehen, dass
das Volk den Tyrannen stürzt. Wahlen sollen vorab bestimmte
Nachfolger mit etwas Schein-Legitimität versehen. Eine demokratische
und erfolgreiche Ukraine ist keine Gefahr für Russland, aber es ist
eine Gefahr für den Putinismus. Putin sieht im gesamten
postsowjetischen Raum seinen legitimen Macht- und Einflussbereich.
Aus dieser Warte haben die Ukrainer, die nach Europa streben, kein
Selbstbestimmungsrecht. Viele Autokraten wähnen sich auf einer
Mission. Putin sieht seine offenbar darin, die Sowjetunion – deren
Zerfall er als größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnete –
so weit wie möglich wiederherzustellen.

Was erhoffen sich pro-westliche Ukrainer jetzt von EU und NATO?

Durkot: Man versteht, dass die NATO keine direkten Möglichkeiten
hat, die Situation zu beeinflussen, dass sie keinen Krieg beginnen
wird. Von der EU wünscht sich Kiew, dass sie eine härtere Linie
gegenüber Moskau fährt mit wirklich spürbaren Sanktionen. Die Ängste
in den baltischen Staaten, die ihre Erfahrungen mit dem Stalinismus
machen mussten, sollten Europa deutlich machen, wie viel in der
Ukraine-Krise aus den Fugen geraten ist. Es gibt keine Sicherheit
mehr. In Kiew ist man der Meinung, wenn der Westen jetzt nicht
entschlossen reagiert, wird er in der Zukunft einen sehr viel höheren
Preis bezahlen müssen.

Sind Sie enttäuscht von der deutschen Haltung, die Gesprächskanäle
in den Kreml unter fast allen Bedingungen offenzuhalten?

Durkot: In Deutschland gibt es keine einheitliche Position. Die
Regierung versucht einerseits, im Kreml einen Fuß in der Tür zu
behalten, andererseits bewegt man sich im Fahrwasser der
gesamteuropäischen, kritischeren Haltung. Manche Meinung in
Deutschland ist allerdings ein direktes Ergebnis erfolgreicher
russischer Propaganda. Ich würde mir zwar eine sehr viel aktivere
deutsche Politik wünschen, aber vielleicht wahrt die Regierung Merkel
auch nur geschickt die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen.

Wie wirkt die Umarmung von Ex-Kanzler Schröder mit Putin in der
Ukraine?

Durkot: Schröder wurde in der Ukraine schon länger als enger
Vertrauter Putins gesehen. Was mich persönlich mehr überrascht hat,
war die Äußerung von Alt-Bundeskanzler Schmidt, der Verständnis für
die Annektion der Krim durch Putin zeigte.

Ist die Angst der baltischen Staaten, Schwedens und Polens vor
einem weitergehenden Beutezug Putins gerechtfertigt?

Durkot: Ja, insbesondere, weil in den baltischen Staaten auch eine
große russische Minderheit lebt. Wie wir in der Ukraine gesehen
haben, geht es ja nicht darum, was die Menschen dort denken, sondern
wie man sie instrumentalisieren kann. Referenden, wie jenes auf der
Krim, gab es in der Westukraine und in den baltischen Staaten schon
mal – zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, als manipulierte, sogenannten
Volksabstimmungen diese Staaten an die UdSSR ketteten. Deswegen weckt
Putins Kurs alte Ängste.

Werden die Präsidentschaftswahlen am 25. Mai unter diesen
kriegerischen Bedingungen noch Öl ins Feuer gießen oder die Lage
beruhigen?

Durkot: Wir leben ja nicht im Vakuum. Kiew hätte die Lage in den
Griff bekommen, wenn Moskau nicht die Separatisten unterstützt hätte.
Deswegen hängt auch beim Punkt Wahlen viel von der russischen Haltung
ab. Zwar liefern Wahlen in unruhigen Zeiten jenen Argumente, die das
Ergebnis nicht anerkennen wollen. Sie sind aber wichtig, damit die
Ukraine endlich eine legitime Führung bekommt.

Ist die Umwandlung der Ukraine in einen föderalistischen
Bundesstaat die letzte Hoffnung?

Durkot: Nein. Wir haben bereits bis Mitte der 90er-Jahre über
einen föderalen Aufbau der Ukraine diskutiert. Damals konnte die
Abspaltung der Krim verhindert werden, indem ihr weitgehende
Autonomierechte zugestanden wurden. Die Idee eines föderalen Staates
hatte man aber verworfen, aus Angst, dass dies auch vom russischen
Nachbarn als Werkzeug für eine schleichende Desintegration benutzt
werden könnte. Wichtig wäre aber, wenn künftig mehr Steuern und
Kompetenzen in der jeweiligen Region verbleiben würden.

Braucht Kiew einen ähnlich langen Atem wie die baltischen Staaten
nach dem Zweiten Weltkrieg, um seine Gebiete zurückzubekommen?

Durkot: Ich glaube ja. Selbst, wenn sich die akute Krise in den
nächsten Monaten beruhigen sollte, bleiben die Probleme, die die
Krise verursachten, bestehen. Und um diese zu lösen, bedarf es des
festen Willens zu wirtschaftlichen und politischen Reformen. Die neue
Regierung steht vor einer eigentlich unlösbaren Aufgabe. Sie muss
Ministerien und eine unabhängige Justiz von Grund auf aufbauen, damit
die auf allen Ebenen wuchernde Korruption effektiv bekämpft werden
kann. Und das in einer schweren Wirtschaftskrise und einer Situation,
in der Russland seinen Einfluss in der Ukraine zementieren will.

Das Interview führte Joachim Zießler

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