Landeszeitung Lüneburg: Wer in Syrien wegsieht, zahlt einen Preis / Experte Dr. Markus Kaim befürchtet einen Glaubwürdigkeitsverlust des Westens, wenn er Assad nicht in den Arm fällt

Syrien wird zur Blutmühle. Täglich gibt es
Berichte über neue Massaker oder verlustreiche Schlachten. Die
internationale Syrien-Politik steckt in einer Sackgasse, weil
Russland und China zu Assad halten. Dr. Markus Kaim, Experte der
außen- und sicherheitspolitischen Denkfabrik SWP in Berlin, warnt:
„Schaut der Westen dem Morden tatenlos zu, zahlt er einen Preis – den
Verlust seiner Glaubwürdigkeit.“

Der syrische Präsident Assad wähnt sich bereits in einem offenen
Krieg mit dem Ausland. Wird er tatsächlich das Schicksal Gaddafis
teilen?

Dr. Markus Kaim: Die Option einer Intervention, in deren Folge der
Präsident stürzt, sehe ich noch nicht. Wenn überhaupt, wird die
internationale Gemeinschaft intervenieren, um das Morden zu beenden –
vergleichbar zum Bosnien-Einsatz 1995 oder dem Kosovo-Krieg 1999.
Ziel wäre also ein Verhaltenswechsel, kein Regimewechsel. Ob dann
zwei, drei Jahre später der Herrscher stürzt, wie damals Milosevic
nach dem Ende des Kosovo-Konflikts, stünde auf einem anderen Blatt,
könnte aber nicht Teil eines Mandats für ein militärisches Eingreifen
sein. Denn dies wäre Wasser auf die Mühlen von Russland und China,
deren Kritik darauf zielt, dass sich hinter der Bezugnahme auf eine
Schutzverantwortung für Zivilisten sich eine imperiale Attitüde des
Westens verberge.

Muss im Falle einer Intervention eine Ausweitung des Konfliktes
befürchtet werden? Iran hat einen Beistandspakt mit Syrien…

Dr. Kaim: Das ist aus heutiger Sicht schwer zu kalkulieren, hängt
entscheidend davon ab, welche Form des militärischen Engagements
gewählt wird. Das geringste Eskalationsniveau birgt sicherlich die
jetzt diskutierte Ausrüstung und Ausbildung der Aufständischen.
Anders sieht es aus, wenn man das verwirklicht, was einige Politiker
fordern: die Einrichtung von humanitären Korridoren oder Schutzzonen
auf syrischem Territorium. Denkt man dies zu Ende, muss man 40.000
bis 50.000 Soldaten den Marschbefehl erteilen, um diesen Korridor zu
sichern. Damaskus hätte aus seiner Sicht kaum eine andere Wahl als
dies als Kriegsgrund zu begreifen. So defensiv „Schutzzonen“ klingen,
sie haben das Eskalationspotenzial, einen ausgewachsenen Krieg mit
den syrischen Streitkräften zu verursachen.

Die Türkei scheint derzeit als einziger NATO-Staat in der Lage zu
sein, Bodentruppen nach Syrien zu entsenden. Auf dem Gipfel in
Chicago konnte die NATO aber nur mühsam die internen Konflikte
übertünchen. Fehlt dem Bündnis die Kraft für einen Einsatz?

Dr. Kaim: Je größer das militärische Engagement wäre, je
anspruchsvoller, desto mehr bräuchte man die NATO. Sie könnte von
ihrer Kommandostruktur her erst einen solchen Einsatz ermöglichen.
Das heißt nicht, dass alle 28 Partner teilnehmen würden – das war ja
auch in Libyen nicht so. Stattdessen würde man die Möglichkeit
eröffnen, dass externe Partner an die Mission andocken könnten. In
Libyen war es etwa Schweden. Wichtig wäre auch eine regionale
Komponente, im Falle Syriens etwa die Beteiligung Katars und
Saudi-Arabiens. Abzuwarten bleibt aber, ob beide Staaten militärisch
das halten, was sie in Aussicht gestellt haben.

Wäre es nicht fatal, wenn diese beiden Golf-Monarchien mit ihrer
Nähe zum wahabitischen Fundamentalismus das leisten würden, was der
Westen verweigert?

Dr. Kaim: Das könnte sein. Das Engagement Saudi-Arabiens und
Katars ist aber ein zweischneidiges Schwert: Es erhöht den Druck auf
den Westen, irgendwas zu tun. Noch hat dieser Druck aber keine
Wirkung gezeigt. Angeblich gibt es bereits eine inoffizielle
Unterstützung der Rebellen mit Geld und Waffen. Was davon existiert,
ist von außen schwer zu beurteilen, weil hier auch mittels Propaganda
eine Drohkulisse aufgebaut werden soll.

Ist die Unterstützung der Aufständischen nicht ungleich
schwieriger als in Libyen, weil es an vergleichbar klaren Fronten
fehlt?

Dr. Kaim: Nein. Das war in Libyen nicht anders. Selbst jetzt fehlt
es dort noch an einer einheitlichen militärischen Kommandostruktur,
einzelne Milizen weigern sich, ihre Waffen abzugeben. Was will man in
Syrien erwarten? Dass innerhalb kürzester Zeit aus einer diffusen
Oppositionsbewegung eine voll durchstrukturierte Armee hervorgeht?
Das vermeintliche Fehlen von Ansprechpartnern ist ein politisches
Argument, das an der Sache vorbeigeht. Und zum Zweiten formuliert die
Schutzverantwortung der UN für ein Eingreifen der Staatengemeinschaft
nicht die Voraussetzung, dass sich Oppositionelle organisiert
zusammen geschlossen haben. Die diffuse militärische Front angesichts
eines vorwiegend in den Städten geführten Kampfes ist insofern kein
Problem, als eine Einrichtung von Schutzzonen mit Bodentruppen oder
gar eine Invasion mit dem Ziel des Regimesturzes derzeit illusorisch
ist. Was aber in Frage kommt, ist eine Ausbildung der Aufständischen,
um so Parität herstellen zu können – ähnlich, wie der Westen es in
den 1990er-Jahren in Bosnien tat. Und hier spielt die diffuse Front
ebenso keine Rolle wie bei denkbaren Luftschlägen gegen die
militärische Infrastruktur der syrischen Armee.

Ist das Schultern der Schutzverantwortung vor den
US-Präsidentschaftswahlen im November ausgeschlossen?

Dr. Kaim: Eine sehr gute Frage, bei der ich mir kein
abschließendes Urteil zutraue. Schließlich sind zwei Kalküle denkbar:
Obama ist als Präsident angetreten, die USA aus zwei Kriegen
herauszuführen – aus Irak und Afghanistan. Vordergründig betrachtet
würde ein weiteres militärisches Engagement im Nahen und Mittleren
Osten dieser Philosophie widersprechen. Zugleich gerät Obama
allerdings unter enormen Druck von Republikanern wie John McCain,
aber auch von Unabhängigen wie Joe Lieberman, irgendetwas zu tun.
Dafür, dass dieses im Weißen Haus Wirkung zeigt, spricht, dass
Generalstabschef Martin Dempsey jüngst einen „politischen
Versuchsballon“ startete, indem er von militärischen Optionen in
Syrien sprach, anschließend allerdings zurück ruderte. Es ist schwer
vorstellbar, dass einer der höchsten amerikanischen Soldaten so etwas
ohne Rückendeckung der politischen Führung angesprochen hat.

Die EU versuchte vergeblich, Moskau dazu zu bewegen, Assad fallen
zu lassen. Ist der Einfluss des Kreml auf seinen Waffenkunden
überhaupt so groß wie vermutet?

Dr. Kaim: Wahrscheinlich nicht. In Europa neigen wir generell
dazu, die Rolle und das Gewicht von externen Akteuren im Nahen und
Mittleren Osten zu überschätzen. So ist es fast ein Allgemeinplatz,
dass der Friedensprozess längst abgeschlossen wäre, wenn Washington
nur richtig Druck auf Israel ausübte. Aber dem ist nicht so. Und
ähnlich verhält es sich beim Gewicht der Schutzmacht Russland in
Damaskus. Deutlich ist in den vergangenen Wochen nur geworden, dass
Moskau seinen Schützling nicht fallen lassen will.

Angesichts der Hartleibigkeit Moskaus, aber auch Pekings: Muss der
Sicherheitsrat umgangen werden, wie Außenministerin Clinton
andeutete?

Dr. Kaim: Ich würde nicht so weit gehen, dass der Sicherheitsrat
umgangen werden muss, aber ich könnte mir ein Szenario vorstellen,
das wie der Kosovo-Krieg 1999 aussähe. Dass also andere
Rechtsgrundlagen herangezogen würden, die ein Handeln der Vereinten
Nationen in Syrien unabweisbar machten, etwa die beiden existierenden
Resolutionen des Sicherheitsrates zusammen mit Verurteilungen durch
die Generalversammlung oder Berichten des UN-Menschenrechtsrates zur
Lage in Syrien. Dann stünde der Sicherheitsrat vor der unangenehmen
Frage, ob er dem Morden weiter zuschauen oder ihm mittels einer etwas
künstlichen Legitimierung Einhalt gebieten will. Für Deutschland wäre
eine solche Situation in besonderer Weise unbequem, weil es noch bis
Ende des Jahres nicht-ständiges Mitglied im Sicherheitsrat ist.

Ein Libyen-Déjà-vu wäre allerdings auch undenkbar, in dem Berlin
sagt: Ohne uns?

Dr. Kaim: Ja, wenn es zu einem militärischen Engagement kommt,
würde ein erneutes „Ohne uns“ nicht mehr funktionieren. Die deutsche
Politik hat die Lehre aus dem Libyen-Konflikt verinnerlicht, dass
sich das Abseitsstehen nicht gelohnt hat – vielmehr viel Vertrauen
verspielt wurde. Seit dem vergangenen Jahr hat Berlin, oft in Person
des Verteidigungsministers, vehement den eigenen Anspruch betont,
internationale Sicherheitspolitik gestalten und Verantwortung
übernehmen zu wollen. Hinter diese Aussagen kann Berlin nicht einfach
zurückfallen, indem es sich entzieht.

Hat Assad angesichts der Sackgasse, in der die internationale
Gemeinschaft steckt, eine Chance, den syrischen Frühling in Blut zu
ertränken?

Dr. Kaim: Er kann seinen Kurs noch eine ganze Weile durchhalten.
Die wichtigsten Stützen des Regimes haben sich noch nicht von ihm
abgewandt. Hier gibt es einen signifikanten Unterschied zu Libyen, wo
sich hochrangige Militärs und Diplomaten von Gaddafi losgesagt
hatten. Die wohlhabenden Kaufmannsfamilien in Damaskus und Aleppo
warten ab. Vielleicht sind sie innerlich in der Opposition, aber sie
tun nicht aktiv etwas für einen Regimewechsel.

Kann der Westen zulassen, dass Assad wie einst sein Vater gegen
die Muslimbrüder das Signal aussendet, barbarische Brutalität führt
zum Erfolg?

Dr. Kaim: Es ist im Westen Konsens, dass wir so etwas wie die
Massaker von Srebrenica oder Ruanda nie wieder zulassen wollen.
Mittlerweile haben aber die Opferzahlen in Syrien, einem Land in
Europas Peripherie, wo die EU einen Ordnungs- und Gestaltungsanspruch
hat, diejenigen von Srebrenica weit überschritten. Nehmen wir das
Morden einfach so hin, untergraben wir die Glaubwürdigkeit des
Westens. Dann dürften wir nie wieder Diktatoren kritisieren, die ihr
eigenes Volk unterdrücken oder verfolgen. Nimmt sich die deutsche
Politik selbst ernst, legt das auch ab einem bestimmten Zeitpunkt ein
militärisches Eingreifen nahe.

Das Interview führte Joachim Zießler

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