Lausitzer Rundschau: Schützengräben der Statistik Zum Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung

Arm im Sinne von menschenunwürdigem Leben ist
hierzulande auch dank der Grundsicherung tatsächlich kaum jemand. Das
ist nicht das Hauptproblem. Ein Problem ist aber, wenn man wegen
steigender Mieten nicht mehr weiter weiß. Ein Problem ist, wenn man
arbeitet und trotzdem zum Sozialamt muss. Ein Problem ist, wenn man
keine Chance bekommt, weil man zu alt ist, behindert oder Ausländer
ist. Armut ist in Deutschland für viele Menschen die Erfahrung
mangelnder Teilhabemöglichkeit inmitten einer Gesellschaft, die
objektiv reich ist und immer reicher wird. Deutschland ist zwar cool,
im Sinne von erfolgreich, wie Wirtschaftsminister Philipp Rösler
sagt. Aber es ist auch kalt. Die Opposition verweist auf die
Vermögenskluft zwischen Arm und Reich, auf Niedriglöhne und die
anhaltend hohe Zahl von Menschen, die staatliche Stütze benötigen.
Sie verlangt mehr Verteilungsgerechtigkeit. Die Regierung hält die
Leistungsgerechtigkeit dagegen, die Tatsache, dass so viele Bürger
wie nie in Arbeit sind, und dass das Land zukunftsfester ist als
viele andere Länder. Beide Ansichten finden Zahlenfutter in dem am
Mittwoch vom Kabinett beschlossenen „Armuts- und Reichtumsbericht“.
Aber beide erfassen jeweils nur einen Teil der Wirklichkeit in
Deutschland. Die Chancengerechtigkeit ist das große, unterschätzte
Thema dieses Landes. Die OECD bemängelt es immer wieder: Kaum
irgendwo ist der Bildungserfolg so vom Status der Eltern abhängig wie
hier. Das ist ein wahres Armutszeugnis, ebenso wie die hohe Zahl der
Schulabgänger ohne Abschluss. Oder, dass sich die Chancen (und
Einkommen) von Frauen und Männern so sehr unterscheiden. Es ist die
Durchlässigkeit der Gesellschaft, die ins Stocken geraten ist. Die,
die oben sind, können immer öfter schon das Geld für sich arbeiten
lassen. Ihre Kinder starten sorgenfrei ins Leben. Die Mittelschicht
trägt derweil den Staat und wird immer frustrierter, weil es nicht
voran geht. Und die, die unten sind, bleiben unten, mit Tendenz zum
Prekariat. Um Chancengerechtigkeit herzustellen, braucht man beides.
Mehr Verteilungsgerechtigkeit durch eine höhere Besteuerung von
Vermögen und Erbschaften, vor allem für die Bildung. Aber auch einen
starken Industriestandort und die Fortsetzung der Politik des
Forderns und Förderns. Es würde sehr helfen, wenn die Politik die
Schützengräben der Statistiken verlassen und sich in die Wirklichkeit
begeben würde. Die Gesellschaft muss ihre Balance halten. Immer.
Wenigstens dieses Ziel sollte allen gemeinsam sein.

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