Der frühere Bundesbankpräsident und Sonderberater
von Kanzler Helmut Kohl, Hans Tietmeyer, hat die Deutsche Einheit als
großen historischen Erfolg gewürdigt. „Natürlich sind im
Vereinigungsprozess auch Fehler gemacht worden, und das auch auf
unserer Seite. Richtig ist auch, dass Ostdeutschland zwei Jahrzehnte
nach der Wiedervereinigung noch nicht vollständig das wirtschaftliche
Niveau der alten Bundesrepublik erreicht hat. Dennoch: Ostdeutschland
ist seit 1989 im wahrsten Sinne des Wortes auferstanden aus Ruinen“,
schrieb Tietmeyer in einem Gastbeitrag für die „Leipziger
Volkszeitung“ (Sonnabend-Ausgabe).
Nicht befriedigen könne allerdings bis heute die
Beschäftigungssituation in den neuen Ländern. „Einen Teil der
Arbeitsmarktproblematik, die in den neuen Bundesländern entstehen
würde, haben wir in den Verhandlungen zur Wirtschafts-, Währungs- und
Sozialunion bereits kommen gesehen. Es war klar, dass eine
1:1-Umstellung der Löhne in der damaligen DDR die ohnehin großen
Probleme der damals international weitgehend nicht wettbewerbsfähigen
DDR-Wirtschaft enorm vergrößern würde.“ Die Löhne in der DDR bewegten
sich, was die Mark-Beträge anging, damals im Schnitt bei etwa einem
Drittel des Westniveaus. Mit Blick auf die absehbaren
wirtschaftlichen Verwerfungen hätten Ökonomen seinerzeit gefordert,
die Löhne höchstens 2:1 in D-Mark umzustellen. „2:1 hätte jedoch dazu
geführt, dass ostdeutsche Arbeitnehmer plötzlich mit einem Sechstel
der westdeutschen Durchschnittsbezüge dagestanden hätten.
Voraussichtlich wäre die Massenflucht aus der DDR dann weiter
eskaliert. Deshalb kam dies für die Politik letztlich nicht in Frag“,
so Tietmeyer.
Leider sei 1990 eine schonungslose öffentliche Bestandsaufnahme
über den wirklichen Zustand der DDR und ihrer Wirtschaft
ausgeblieben. „Dazu hatte ich dem neuen DDR-Regierungschef Lothar de
Maizière nach der Märzwahl 1990 auch persönlich geraten. Mein
Argument dafür: Nur schonungslose Offenheit könne verhindern, dass
die junge demokratische Regierung für die zu erwartenden Probleme
beim Umstellungsprozess der DDR-Wirtschaft verantwortlich gemacht
würde. Leider ist Lothar de Maizière diesem Rat aus Rücksicht auf die
Sensibilität in der Bevölkerung damals nicht gefolgt.“ Noch heute
täuschten sich leider viele in Ost und West über den wirklichen
Zustand der DDR und ihrer Wirtschaft in den letzten Tagen der
deutschen Teilung. „Das verstellt ihnen leider oft auch den Blick auf
eine angemessene Würdigung dessen, was erreicht worden ist.“
Ermutigend für die Zukunft sei vor allem der Blick auf die
ostdeutsche Bildungslandschaft. „Der Anteil der Menschen, die heute
die Hochschul- oder Fachhochschulreife beziehungsweise einen
Hochschulabschluss haben, ist in zwei Jahrzehnten um 75 Prozent
gestiegen. Junge Menschen haben demnach in Ostdeutschland heute
vielfach bessere Bildungschancen als vor dem Ende der DDR.“ Starke
Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Ostdeutschland zum
Beispiel in den Regionen Jena und auch Potsdam seien für Investoren
attraktive Standortmerkmale. „Was hier noch fehlt, sind Forschungs- &
Entwicklungskapazitäten in privaten Unternehmen. Dem Osten fehlen
leider immer noch eigene Firmenzentralen – er ist vielfach noch
verlängerte Werkbank des Westens. Hier rächen sich 40 Jahre, in denen
private unternehmerische Initiative aus ideologischen Gründen
ausgeschaltet wurde.“
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