Mindener Tageblatt: Kommentar zum EU-Gipfel / Europa funktioniert – irgendwie

Europa ist handlungsfähig, allen Unkenrufen zum
Trotz. Was die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedsländer auf
ihrem Gipfel alles angeschoben, geregelt oder in trockene Tücher
gebracht haben, ist schon beeindruckend. Denn von der Schulden- bis
zur Flüchtlingsproblematik, von der Mitgliederentwicklung bis zur
Neubesetzung der EZB-Spitze handelt es sich samt und sonders um hoch
kontroverse Themen mit beträchtlichem Spaltpotenzial. Das natürlich
auch mit diesem Gipfeltreffen mitnichten aus der Welt ist und die 27,
demnächst 28 Mitglieder weiter beschäftigen wird. Bis zum nächsten
Krach, zur nächsten Krise. Deswegen haben auch die schärfsten
EU-Kritiker immer recht: die Gemeinschaft taktiert, verfolgt
unterschiedliche individuelle Interessen, schließt fragwürdige
Kompromisse, lähmt oder blockiert sich gar im Zweifel gegenseitig.
Was aber schon deswegen nicht verwunderlich ist, weil jedes einzelne
Mitgliedsland bereits intern selten bis nie einig ist bezüglich der
von der Gemeinschaft zu handhabenden Probleme. Es sei denn, es
handelt sich um von ihr einzufordernde Unterstützung. Ob eine Union
von demnächst 28 Mitgliedsstaaten unterschiedlichster Größe,
Wirtschaftskraft, Charakter und Interessen überhaupt funktionieren
kann, ist durchaus fraglich. Reibungs- und konfliktlos jedenfalls
definitiv nicht. Dass die EU dennoch über die Runden kommt, es sogar
immer wieder schafft, sich weiter zu entwickeln, darf man getrost als
Grunderfolg des gefundenen politischen Modells bewerten – so
unzufrieden man mit den jeweils ausgehandelten Lösungen im Einzelfall
zu Recht sein mag. Krisen gehören zur DNA der Europäischen Union.
Dass sie bisher alle überlebt hat, muss nicht heißen, dass der
nächste Mega-Zwist nicht doch die Fundamente sprengen kann. Ein
Scheitern des Euro, eine Verpuffung der Schengen-Substanz könnten
solche gefährlichen Spalt-Keime hervorbringen. Noch gefährlicher aber
ist auf Dauer ein Politikstil, der dem von ihr profitierenden Bürger
die Gemeinschaft als von ihm gemästeten Wirt blutsaugerischer
Parasiten denunziert.

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