Mittelbayerische Zeitung: Agieren statt Reagieren

Von Dominik Schleidgen

Wir alle haben kleine Narben. Überbleibsel aus einer Zeit der
kindlichen Unbekümmertheit oder des jugendlichen Leichtsinns. Blasse
Souvenirs, die uns daran erinnern, dass nicht immer die höchste Stufe
auf dem Klettergerüst erklommen werden muss. Und, dass ein
Schneidezahn keinen Flaschenöffner ersetzt. Das Leben der Kinder und
Jugendlichen im 21. Jahrhundert findet nicht mehr nur auf dem
Spielplatz oder beim Treff an der Bushaltestelle statt. Das Internet
und die Sozialen Netze haben der Generation der „Digital Natives“ ein
neues Umfeld geschenkt. Ein Raum, in dem sie praktisch nicht zu
kontrollieren sind. Und in dem sie sich verletzten können – auf eine
Weise, für die es praktisch keine Präzedenzfälle gibt. Kein Grund, in
Panik zu geraten. Aber Eltern müssen die digitale Lebenswelt ihrer
Kinder verstehen, um mögliche Risiken rechtzeitig zu erkennen und
angemessen zu reagieren. Cyber-Mobbing ist eine dieser Gefahren. Und
ein Problem, das nicht kleingeredet werden darf. Die Angriffe dringen
tief in die Privatsphäre der Opfer ein und sind über Downloads und
„Gefällt mir“-Buttons praktisch endlos reproduzierbar. Das Netz
vergisst nichts und endet nicht an der Haustür. In praktisch jedem
Kinderzimmer steht ein Computer, die Betroffenen werden selbst in den
eigenen vier Wänden mit den Schmähungen konfrontiert. Der Fall der 15
Jahre alten Amanda Todd aus Vancouver hat weltweit für Aufsehen
gesorgt. Nachdem das Mädchen jahrelang gemobbt wurde, hat sie sich
das Leben genommen – ein Extremfall, sicher. Aber er zeigt, welche
Folgen Mobbing haben kann. Dabei ist das Phänomen weiter verbreitet,
als viele denken. In der aktuellen JIM-Studie (Jugend, Information,
Media) des „Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest“, haben 23
Prozent der Zwölf bis 19-Jährigen angegeben, jemanden zu kennen, der
einmal fertig gemacht worden sei. Aber nur fünf Prozent sahen sich
dagegen selbst als Opfer. Jugendliche gewichten Mobbing-Attacken im
Netz anders als Erwachsene, schreibt das „Institut für
Medienpädagogik in Forschung und Praxis“. In einer Untersuchung
kommen die Forscher zu dem Ergebnis, dass Heranwachsende eigene Wege
finden, mit Mobbing umzugehen. In Sozialen Netzwerken hat sich ein
eigener Umgangston etabliert. Der gehört für Jugendliche genauso zum
Alltag wie Auseinandersetzungen mit Erwachsenen oder dem Bedürfnis,
sich in Szene zu setzen. Im Internet geht das alles in einer neuen
Dimension. Das zeigt sich schon in der Sprache, die Jugendliche im
Web benutzen. Im Sozialen Netzwerk ist alles lauter, tragischer oder
enthusiastischer als im realen Leben. Wer auf Facebook etwas liest,
das ihn zum Schmunzeln bringt, kommentiert es mit „HAHAHAHAHAHA“.
Wenn in dem Kommentar unter einem Post ein „Opfer“ oder „Bitch“
auftaucht, ist es kein Grund, zusammenzuzucken – egal, wie man als
Erwachsener darüber denkt. Denn darauf kommt es an: Erwachsene müssen
umdenken, auch was ihre Vorbildfunktion angeht. Das gilt für alle
Bereiche des Lebens – erst recht für das Internet. In Familien
schauen sich Eltern gemeinsam mit ihren Kindern Filme an und sprechen
danach darüber. Dasselbe muss auch für die Präsenz und das Verhalten
im Internet und den Sozialen Netzen passieren. Das Zauberwort heißt
„Prävention“, die magische Formel „agieren, statt reagieren“. Darin
sind nicht nur die Eltern gefordert. Die Schulen dürfen sich nicht
aus der Pflicht stehlen, in dem sie darauf verweisen, dass im
Klassenzimmer ein Handy-Verbot gilt. Die Grenzen zwischen
Freizeitgestaltung und Pausenhof sind – wenn es sie je geben hat –
mit den Sozialen Netzwerken endgültig verschwunden. Es ist längst
keine Frage mehr, ob Jugendliche im Internet etwas zu sehen bekommen,
was nicht für Kinderaugen gedacht ist, oder sie in einem Sozialen
Netzwerk eine brenzlige Situation erleben. Die Frage ist wann. Und
wie gut sie darauf vorbereitet sind.

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