Mittelbayerische Zeitung: Das Schwarze-Peter-Spiel/Schuldzuweisungen nutzen niemandem. Das Gesundheitssystem muss rundum erneuert werden.

Der Streit im Gesundheitswesen erinnert an ein
beliebtes Kartenspiel, das offensichtlich nicht nur Kindern gefällt:
an das Schwarze-Peter-Spiel, bei dem sich die Akteure gegenseitig die
Schuld zuweisen. Das aber hilft niemandem weiter. So behauptet
Wolfgang Hoppen-thaller, Chef des bayerischen Hausärzteverbands,
Gesundheitsminister Philipp Rösler wolle die Hausärzte vernichten,
indem er die Vorteile, die der Hausärztevertrag für die Mediziner
bietet, durch die Gesundheitsreform de facto aushebelt. Die AOK
Bayern versklave überdies die Hausärzte, weshalb Hoppenthaller seine
Kollegen aufruft, aus dem Kassensystem auszusteigen. Dafür wird er
als „Rechtsbrecher“ bezeichnet – und sägt zudem den Ast ab, auf dem
die Allgemeinmediziner sitzen. Denn allein von Privatpatienten werden
die Hausärzte nicht leben können. Die Lösung des Problems kann auch
die Rückgabe der Kassenzulassungen nicht sein. Vor allem, weil sie
auf Kosten der Versicherten geht – die, wenn sie alt, krank, immobil
und nicht besonders reich sind, Schwierigkeiten haben werden, sich
behandeln zu lassen. Doch die Aktion kann Anstoß für eine
tiefergehende und notwendige Reform sein. Seit Jahrzehnten besteht
ein fundamentales Problem im Gesundheitssystem. Das Geld reicht
nicht, die Menschen werden zwar erfreulicherweise älter, brauchen
aber deshalb immer länger und intensivere medizinische Behandlung,
deren Kosten nicht zuletzt durch den rasanten technischen Fortschritt
ins Unermessliche steigen. Die Therapie der Politik bisher: Man
schröpft meist die Versicherten – durch höhere Zuzahlungen, die
Praxisgebühr, den Wegfall von Leistungen aus dem Katalog der
Krankenkassen etc. Das aber war nur Kosmetik – und das, obwohl es
sich beim Gesundheitssystem um einen schwerkranken Patienten handelt.
Ein System, das nur durch einen schwerwiegenden operativen Eingriff
geheilt werden kann. Eine grundlegende Reform traut sich die Politik
jedoch seit Jahren nicht zu. Zu viele Interessen – die der Ärzte, der
(privaten) Krankenkassen, der Pharmaindustrie – sind berührt. Alles
mächtige Akteure im Spiel um Macht und Geld. Das, worum sich die
Akteure nun streiten, sind die Folgen unzureichender Rezepte, die in
der Vergangenheit verschrieben wurden und dem Patienten nur Luft
zufächelten. Ob berechtigte Forderung oder Jammern auf hohem Niveau –
immerhin verdienen bayerische Hausärzte durch den Hausarztvertrag
laut AOK Bayern 18 Prozent mehr als ihre Kollegen im Rest
Deutschlands: Die Drohung der Allgemeinmediziner, das System versagen
zu lassen, baut zurecht Druck auf die Politik auf. Sie muss dem
kranken, weil chronisch unterfinanzierten Gesundheitssystem endlich
eine umfassende Therapie verschreiben. Ein erster Ansatz wäre, den in
der neuesten Gesundheitsreform eingefrorenen Arbeitgeberbeitrag
aufzutauen. Rösler hat einen schweren Fehler begangen, die
paritätische Finanzierung, einst Grundpfeiler des Gesundheitshauses,
abzuschaffen. Zum zweiten muss die Beitragsbasis der gesetzlichen
Krankenkassen verbreitert werden – Selbstständige und Beamte sollen
ebenso wie abhängig Beschäftigte ins solidarische System einzahlen.
Auf der Ausgabenseite muss durch einen unabhängigen Arznei-TÜV
endlich der Selbstbedienungsladen für die Pharmaindustrie geschlossen
werden. Ferner muss das System transparenter werden. Vor allem für
die Patienten, die durch eine Rechnung, wie sie privat Versicherte
vom Arzt erhalten, die tatsächlichen Kosten einer Behandlung
einschätzen könnten. Und den Hausärzten muss ausreichende
Wertschätzung entgegengebracht werden. Sie haben vom Gesetzgeber
einst den wichtigen Auftrag erhalten, die Patienten durch das mehr
als komplizierte Gesundheitssystem zu lotsen und damit etwa unnötige
und teure Mehrfachbehandlungen zu vermeiden – dafür haben sie
zumindest Planungssicherheit verdient.

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