Mittelbayerische Zeitung: Der Putz bröckelt

Von Christian Kucznierz

Es gibt ein Goethe-Zitat, das Angela Merkel nie in den Sinn kommen
wird: „Werd– ich zum Augenblicke sagen: ,Verweile doch, Du bist so
schön–, dann magst Du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern
zugrunde gehn.“ Erstens, weil man viel über die Kanzlerin sagen kann,
nur nicht, dass sie aufgeben will. Und zweitens, weil sie in den
vergangenen Monaten keine so schönen Augenblicke erlebt hat. Das lag
auch daran, dass sich oft – und ganz im faustischen Sinne – der Geist
der stets verneint in Gestalt von CSU-Chef Horst Seehofer zu Wort
meldete und so wie gestern mit dem Ende der Koalition drohte. Das tat
er meist dann, wenn es einmal danach aussah, als würde doch ein
Sonnenstrahl das Grau am Himmel über dem politischen Berlin
durchbrechen wollen. Der monatelange Dauer-Krisenkampf hat Spuren
hinterlassen in Berlin. Die Rettung des Euro ist zum überragenden
Thema von Merkels Kanzlerschaft geworden und sie hat es bislang gut
bearbeitet. Aber nun entgleitet es ihr, und das nicht nur, weil sie
den letzten EU-Gipfel als Verliererin verlassen musste. Sondern auch,
weil Merkel mit ihrem Turbo-Tempo im Kampf gegen die Krise an die
Belastungsgrenze der Koalition gestoßen ist. Ein wichtiger Beleg
dafür ist die Abstimmung über ESM und Fiskalpakt am Freitag. Die
Kanzlerin konnte zwar die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit für die
Vorhaben aufbringen. Aber die eigene Koalition verweigerte ihr die
Kanzlermehrheit. Nun ist diese Mehrheit nur in wenigen genau
definierten Abstimmungen nötig, etwa bei der Wahl des Bundeskanzlers.
Aber sie ist eine symbolische Größe. Merkel hat sie jedoch zum
zweiten Mal verfehlt. Erstmals stimmte ihre eigene Koalition nicht
geschlossen für ihre Politik, als im Februar über das Hilfspaket für
Griechenland abgestimmt wurde. Man muss das nicht überbewerten;
unterschätzen darf man es auch nicht. Dazu kommt, dass Merkels
Politik in der eigenen Partei noch nie unumstritten war. Ihr strikter
Modernisierungskurs der vergangenen Jahre hat die Konservativen in
der CDU schon lange verärgert. Allein: Ihnen waren die
Führungsfiguren abhanden gekommen. Die sind zwar immer noch nicht in
Sicht, dafür wollen sich die Konservativen zumindest mehr Gehör
verschaffen. Noch in der Sommerpause will sich der „Berliner Kreis“,
der sich in einigen inhaltlichen Punkten, etwa der Energie- und der
Familienpolitik, gegen die Merkel-Union absetzt, ein Manifest geben.
Die Koalition insgesamt hat ihre Streitthemen nur vertagt, aber nicht
gelöst. Wie ernst die Lage ist, zeigte die geplatzte erste Lesung des
Betreuungsgelds, in der Union und FDP nicht genügend eigene Leute
aufbrachten, die für das in den eigenen Reihen höchst umstrittene
Projekt stimmen wollten. Blamage ist da noch ein milder Ausdruck. Ein
heißes Eisen wie die Vorratsdatenspeicherung wird gar nicht mehr
angefasst, weil der Graben zwischen den zuständigen Ressorts aus CSU
und FDP unüberbrückbar geworden ist. Merkel kann das alles zwar
derzeit noch egal sein. Sie rangiert nach Bundespräsident Joachim
Gauck immer noch an zweiter Stelle der Beliebtheitsskala. Aber der
Kampf gegen die Krise reicht nicht unendlich als Anstrich, mit der
sich die Risse im Putz der eigenen Koalition überstreichen lassen.
Die wahre Dimension der Krise kennt keiner. Nur soviel sieht jeder
jetzt schon: Sie wird uns noch lange beschäftigen. Und sie wird immer
bedrohlicher. Die Gretchenfrage lautet daher: Wie hält Merkel es mit
Europa? Denn es gibt nur noch zwei Wege: Entweder bricht die
Gemeinschaft auseinander. Oder aber sie wird politisch noch enger
verwoben. Dafür aber braucht es eine Volksabstimmung. Ein „weiter so“
wird diese Koalition nicht mehr tolerieren. Der Wähler ebenso wenig.

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