Mittelbayerische Zeitung: Die Grenzen der Freiheit Leitartikel zur europäischen Asylpolitik

Es ist schon erstaunlich, wie überrascht sich
die EU vom Flüchtlingsansturm auf Lampedusa zeigt. Denn eigentlich
kennt man die Szenen, die sich derzeit auf der Mittelmeerinsel
abspielen, nur zur Genüge. Schließlich sind in den vergangenen Jahren
dort viele tausende Flüchtlinge angekommen. Und jetzt muss die EU
wieder einmal auf ein Problem reagieren, von dem sie dachte sie hätte
es im Griff. Aber das Gegenteil ist der Fall – tatsächlich hat die
Gemeinschaft nichts aus den bisherigen Erfahrungen gelernt. Der
Ansturm auf Lampedusa zeigt, dass es noch immer keine gemeinsame
Asylpolitik gibt. Europa hat ein Glaubwürdigkeitsproblem: Eben
jubelte man noch über den Freiheitswunsch der Tunesier und Ägypter.
Doch jetzt, wo die Nordafrikaner in Scharen nach Europa drängen,
überlegt die EU angestrengt, wie sie den Freiheitsdrang wieder
kanalisieren kann. Die ganze Angelegenheit entlarvt, wie sehr man bei
der Sicherung der Grenzen auf Diktatoren baut. Ob Ben Ali in Tunesien
oder Gaddafi in Libyen: Dass die Autokraten für die Abschottung der
Gemeinschaftsaußengrenzen verantwortlich waren bzw. sind, zehrt an
der Glaubwürdigkeit der Wertegemeinschaft. Dies gilt auch für die
nicht existente gemeinsame Asylpolitik. Während Länder wie Italien,
Malta oder Griechenland immer wieder von einer illegalen
Einwandererwelle überschwemmt werden, sind die übrigen Länder aus dem
Schneider. Denn nach wie vor ist in der EU der jeweilige
Einreisestaat für ein Asylverfahren zuständig. Dass sich die
zunehmende Belastung in den Außenstaaten auf die Qualität der
Asylverfahren niederschlägt, ist unbestritten. Doch anstatt ein
einheitliches Verfahren sowie ein faires Quotensystem zur Verteilung
der Immigranten einzuführen, setzt die EU auf Frontex und die
Zusammenarbeit mit nordafrikanischen Diktatoren. Zynischer kann der
Freiheitswunsch der Tunesier nicht beantwortet werden. Dahinter
steckt, dass für die meisten europäischen Politiker Asylpolitik keine
humanitäre Frage, sondern vielmehr ein Sicherheitsproblem darstellt.
Zu dieser Mentalität beigetragen hat auch der von Frankreichs
Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy initiierte Immigrations-Pakt. Mit
dem 2008 verabschiedeten Paket haben sich die EU-Staaten zwar auf dem
Papier eine Zuwanderungsstrategie verpasst. Doch in Wirklichkeit
steckt dahinter nur eines: Die Abschiebung illegaler Einwanderer
massiv auszuweiten und die legale Zuwanderung nach Europa zu
erschweren. Es ist deshalb höchste Zeit, dass die EU neben einer
gemeinsamen Asylpolitik auch ihre Politik zur Entwicklungshilfe
überarbeitet. Einen ersten wichtigen Schritt hat EU-Außenministerin
Catherine Ashton bereits getan. Sie will bei der Förderung des
demokratischen Wandels in Nordafrika in die Vollen gehen. Das wird in
erster Linie über Finanzhilfen angestrebt. Denn nur wenn sich die
Länder nach dem Sturz der Regime wirtschaftlich aufrappeln, können
die Menschen vor Ort für sich eine Perspektive sehen. Allein von
Demokratie und freien Wahlen können sie sich nichts kaufen. Deshalb
ist es gut, dass die Finanzmittel, die in diesem Jahr für Tunesien
zur Verfügung stehen, aufgestockt werden sollen. 17 Millionen Euro
konnte Ashton zusätzlich zusammenkratzen. Dass Italien zur
Flüchtlingsabwehr 100 Millionen Euro aus Brüssel gefordert hat, zeigt
wie die Prioritäten bisher gelagert sind. Europa muss nun rasch
handeln – auch um zu verhindern, dass der Flüchtlingsansturm zur
humanitären Katastrophe wird. In den kommenden Wochen wird sich
zeigen, wie ernst es die Gemeinschaft mit dem „arabischen Frühling“
meint.

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