Mittelbayerische Zeitung: Erbe von 1989 ist akut in Gefahr 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs werden Nationalisten dieser Tage nicht müde, diese Entwicklung zu konterkarieren.

Die Vergleiche drängen sich auf. Vor 30 Jahren
senkten ungarische Grenzsoldaten ihre Gewehrläufe und sahen weg, als
Hunderte DDR-Bürger beim Paneuropäischen Picknick in Sopron nach
Österreich flüchteten. Der Eiserne Vorhang öffnete sich, Europa wuchs
zusammen. Heute lässt der ungarische Regierungschef Viktor Orban die
Grenzen seines Nationalstaates mit meterhohen Nato-Drahtzäunen
sichern und schwadroniert vom Bollwerk des christlichen Abendlandes.
Flüchtlinge werden in Lager gesperrt. Europa schottet sich nach außen
ab und droht im Innern wieder in seine Einzelteile zu zerfallen. Zu
stark, so scheint es, sind die nationalen Egoismen. Und das gilt
keineswegs nur für die ostmitteleuropäischen Staaten und ihre
Solidaritätsverweigerung in der Migrationspolitik oder für die
Brexit-Briten. Gerade Deutschland, das sich so oft und lautstark
seines ach so vorbildlichen Europäertums rühmt, zeigt den Schwächeren
auf dem Kontinent immer wieder gern, wo der germanische
Vorschlaghammer hängt. Man denke nur an die kompromisslos oktroyierte
Finanzpolitik in der Griechenland-Krise. Oder an die
Nordstream-Pipeline, die deutsche Unternehmen gemeinsam mit Wladimir
Putins Gazprom-Imperium an Polen und den baltischen Staaten vorbei
gebaut haben. Der Beschluss dazu fiel im Jahr nach der
EU-Osterweiterung und war ein Signal der Ignoranz sondergleichen. Vor
diesem Hintergrund mutete es mehr als befremdlich an, dass Orban und
Bundeskanzlerin Angela Merkel beim gemeinsamen Gedenken in Sopron
gesamteuropäischen Optimismus zu versprühen versuchten. Voller Pathos
forderten sie sogar eine neue Osterweiterung auf dem Balkan ein, wohl
wissend, dass es die dafür nötige Einstimmigkeit in der EU auf
absehbare Zeit nie und nimmer geben wird, schon weil die Franzosen
darüber in einem Referendum entscheiden müssten. Ansonsten wiesen die
beiden Regierungschefs auf die großartige Kooperation in der
Rüstungspolitik hin. Wenn das künftig der letzte gemeinsame Nenner in
den Ost-West-Beziehungen ist, dann gute Nacht EU. Nein, niemand
sollte sich Illusionen hingeben. Orban war am Montag zwar nicht auf
Krawall gebürstet wie beim letzten Treffen mit Merkel in Berlin, als
sich die beiden ihre Differenzen in der Migrationspolitik verbal um
die Ohren schlugen. In Sopron wiesen sie das Thema elegant der
Lösungskompetenz der neuen EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen
zu. Aber Orban machte auch diesmal keinen Hehl daraus, dass er seine
Abschottungs- und Abschreckungspolitik nicht ändern wird. Ohnehin
werde über ungarische Angelegenheiten in Budapest entschieden, nicht
in Brüssel. Da klang dann auch wieder klar durch, welche Vorstellung
Orban von Europa hat: Die EU ist in seiner Denkweise nicht mehr als
ein Dienstleister der Nationalstaaten. Eine Überwindung jener
Nationalismen, die den Kontinent vor 80 Jahren in den Zweiten
Weltkrieg und damit in die ultimative Katastrophe des 20.
Jahrhunderts geführt haben, ist so ziemlich das Letzte, was Orban
will. Es lässt sich durchaus darüber streiten, ob die Nationalisten
unserer Tage das Erbe von 1989 verraten oder, im Gegenteil,
fortführen. Natürlich feierten die Osteuropäer damals vor allem die
Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Auch
Deutschland vereinigte sich. Allerdings entschieden sich die Europäer
in der Folge von 1989 dazu, aus der wirtschaftszentrieren EG eine
wertebasierte EU zu machen und sie nach Osten zu erweitern. Dieses
Erbe ist akut in Gefahr.

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