Mittelbayerische Zeitung: Gestörte Wahrnehmung / Nicht nur die Behörden haben im Umgang mit dem Thema Rechtsextremismus versagt.

Es ist so einfach wie falsch zu behaupten, der
Staat sei auf dem rechten Auge blind. Blind würde heißen, dass er
unfähig wäre, die Gefahr von rechts wahrzunehmen. Oder dass er
bewusst diese Gefahr ignoriert. Nein, er sieht sie sehr wohl. Er nahm
sie bisher nur nicht ernst genug. Er stellte sie weit hinter die
Bedrohung durch den Islamismus und den Linksextremismus. Von rechten
Spinnern war oft die Rede, die vergleichsweise harmlos gegenüber
linken Gruppen seien. Es ist nicht tröstlich, dass Staat mit seiner
gestörten Wahrnehmung nicht alleine war. Im Verfassungsschutzbericht
2010 heißt es: „Auch 2010 sind in Deutschland keine
rechtsterroristischen Strukturen erkennbar. (…)
Rechtsextremistische Gewalt wird überwiegend spontan begangen. (…)
Die Affinität von Rechtsextremisten zu Waffen und Sprengstoff bildet
weiterhin ein latentes Gefährdungspotenzial, insofern sind Taten von
Einzelaktivisten nicht auszuschließen.“ Die jüngsten Ereignisse
lassen all dies als vollkommen naiv erscheinen. Es gibt ganz
offensichtlich rechtsterroristische Strukturen; spontan war keiner
der Morde; und Einzelaktivisten waren ebenfalls nicht am Werk. Der
Verfassungsschutzbericht wird nachträglich zum Beweis dafür, wie
erschreckend wenig über den gewaltbereiten Rechtsextremismus in
Deutschland bekannt ist. Der Staat hat geschlafen. Wenn er
aufgerüttelt wurde von Verbrechen durch rechte Täter, dann war er
entsetzt – und hat sich umgedreht und weitergeschlafen. Das
Oktoberfest-Attentat von 1980? Eine Gruppe Verwirrter. Die brennenden
Asylbewerberheime in den 1990ern? Eine furchtbare Tat von einigen
wenigen Aufgehetzten. Übergriffe auf Ausländer? Einzeltaten. Der
Rechtsextremismus ist in Deutschland als Randgruppenerscheinung
deklariert worden, als Gesinnung dumpfer Schläger, die zwar in
Gruppen auftreten, aber nur als Einzeltäter auffällig werden. Die in
der offiziellen Lesart einzig ernstzunehmende Gefahr kam von links.
Hier ließ sich schnell und deutlich eine Systematik aufzeigen,
Netzwerke, Strukturen. Es stand eine Ideologie dahinter, die sich
meist wortreich manifestiert hatte in Bekennerschreiben,
Abhandlungen, Pamphleten. Die Rechten waren dumm und aggressiv, die
Pitbulls unter den Extremisten. Man weiß, dass sie hart und brutal
zubeißen können. Die Linksextremen waren dagegen die Wölfe, die mit
Plan und im Rudel jagen und deshalb systematisch bekämpft werden
können und müssen. Dass in jedem Pitbull – wie in jedem Hund – ein
Wolf steckt, hat man gerne ignoriert. Vielleicht auch deswegen, weil
es zusätzliche Arbeit bedeutet hätte. Denn davon gab es ohnehin schon
genug. Die alles überstrahlende Angst vor dem islamischen Terror war
mit ein Grund, der half, die Gefahr von rechts wegzudenken. Niemand
hatte ein Problem damit, die Sauerland-Gruppe als islamische
Terrorzelle zu bezeichnen. Dabei haben sie noch nicht einmal einen
Anschlag verübt – wobei außer Frage steht, dass sie dieses Vorhaben
in die Tat umgesetzt hätten. Aber die Gruppe um Uwe Mundlos, Uwe
Böhnhardt und Beate Zschäpe? Sie konnte über zehn Jahre hinweg Bomben
bauen und werfen und Menschen erschießen, ohne dass auch nur ein
Zusammenhang vermutet wurde – und das, obwohl die Gruppe bereits
einmal aktenkundig geworden war und es ihr gelang, abzutauchen.
Skandal ist für ein solches Versagen des Verfassungsschutzes ein sehr
mildes Wort. Es gibt hier viel Erklärungsbedarf. Andererseits ist die
gestörte Wahrnehmung der Behörden nichts weiter als ein Spiegel
unserer gestörten Wahrnehmung. Fremdenfeindlichkeit und
Rechtsextremismus werden im täglichen Leben an den Rand des
Bewusstseins geschoben. Es gibt beides – aber nicht bei uns, lautet
die Devise. Und beides trifft ja nicht uns selbst. Es ist das Glück
der Rechtsextremen, dass ihre Opfer der Schicht entstammen, die von
vielen ohnehin stigmatisiert wird. Es ist das Unglück unserer
Gesellschaft, dass wir diesen Umstand hinnehmen. Oder ihn verdrängen.

Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de

Weitere Informationen unter:
http://