Mittelbayerische Zeitung: Kommentar zu 25 Jahre Mauerfall

von Christian Kucznierz, MZ

Als die Mauer fiel, war ich Teenager. Berlin war weit weg. Nichts
war so weit entfernt wie die DDR. Kein Ausland, kein Urlaub, egal
wohin, führte mich so weit von dem, was ich kannte, wie die
Vorstellung dessen, was hinter der Mauer lag. Irgendwie war dort
nichts, außer Fremdheit, Traurigkeit, vielleicht Kälte. Wie viele in
meiner Klasse hatte ich keinen persönlichen Bezug, keinen familiären
Hintergrund, der mich mit dem Osten Deutschlands verband. Mein erstes
Stück Mauer hielt ich 1990 in den Händen. Es war in Irland. Heute, 25
Jahre später, lebt eine Generation in Deutschland, die die Mauer
nicht einmal mehr als Bruchstück in den Händen gehalten hat. Die
Bilder von Grenzanlagen nicht mehr in der Tagesschau gesehen hat. Die
keine Trabis auf deutschen Straßen mehr fahren gesehen hat. Die nicht
weiß, wie es ist, in einer Welt zu leben, wo hinter einer Mauer,
einem Grenzzaun in der Vorstellung nichts liegt, außer Fremde, Kälte,
Tristesse. Für sie ist es ein unglaubliches Glück, in einer Welt zu
leben, die kein Ost und West kennt, das politische Bedeutung hat.
Sondern wo die Begriffe nur noch Routen angeben für Züge, Autobahnen
und Flugzeuge, die ungehindert zwischen Regensburg, Dresden, Berlin,
Frankfurt oder Rostock verkehren – wenn nicht gerade Bahnstreik ist.
Die vergangenen 25 Jahre haben viel angeglichen.
Beschäftigungszahlen. Mietpreise. Lebenshaltungskosten. Löhne.
Angeglichen, aber nicht gleichgemacht. Es bleibt eine Grenze zwischen
Ost und West, die sich derzeit auch dadurch kennzeichnet, dass der
alte Westen dem neuen Osten in Sachen Infrastruktur hinterher hinkt.
Aber auch das wird sich wieder angleichen, eines Tages sogar
vielleicht gleichgemacht sein. Doch bei all der Gleichmacherei, bei
allem Glück der Spätgeborenen, ist eines auf der Strecke geblieben:
die Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Nicht die der Einzelnen.
Sondern die der Deutschen in Ost und West. Wenn wir heute einen
Bundespräsidenten im Amt haben, dessen Vita von den Erfahrungen eines
Lebens unter der SED-Herrschaft geprägt ist, wenn wir eine Kanzlerin
haben, die in der DDR lebte und forschte und promovierte, ist das ein
Beweis für gelungene Integration der deutschen Geschichte in den
politischen und gesellschaftlichen Alltag. Wenn aber derselbe
Bundespräsident sich genötigt sieht, sich kritisch über die
Regierungsfähigkeit der Linken zu äußern, und wenn damit eine Debatte
quer durch alle Parteien ausgelöst wird, zeigt das, dass wir noch
Nachholbedarf haben. Ziemlich großen sogar. Die Linke ist eine
demokratische Partei mit Wurzeln in einem Unrechtsstaat. Sie muss
dazu stehen. Aber ebenso müssen Parteien wie die CDU dazu stehen,
ehemalige Ost-Funktionäre in den eigenen Reihen zu haben. Und
jenseits der Politik arbeiten Menschen in Behörden, Schulen oder
Fabriken, die in und mit einem Unrechtsstaat Karriere gemacht haben.
Es gibt viele, deren Lebenslinie die Mauer war, weil sie durch sie
und hinter ihr aufstiegen – auch auf Kosten derer, denen die Mauer
ihre Lebenslinie durchkreuzt hatte. Eine Auseinandersetzung mit den
Profiteuren, Mitarbeitern und Funktionären hat nicht stattgefunden.
Ein Vierteljahrhundert nach dem größten Glücksfall der deutschen
Geschichte aber ist es an der Zeit, diese unterschiedlichen
Grenzerfahrungen aufzuarbeiten. Deutschland lebt seit 1945 in
Frieden, seit 1989 ohne innerdeutsche Grenzen und seit 1990 in
politischer Einheit. Die gesellschaftliche steht noch aus. Es muss
darum gehen, der Post-Mauer-Generation zu zeigen, was dieses Land
geleistet hat, aber auch, wo es herkommt. Es geht nicht um
Fingerzeige auf Besser-Wessis und Mecker-Ossis. Sondern um das
Anerkennen der Einheit in Unterschiedlichkeit. Es geht nicht um
Abrechnung. Sondern um eine Beschäftigung mit Tätern und Opfern. Es
geht darum, die letzten Mauern abzureißen. 25 Jahre nach dem
Mauerfall ist es an der Zeit.

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