Deutschland am Scheideweg
von Reinhard Zweigler
Wenn es Ernst wird, melden sich SPD-Altvordere wie Franz
Müntefering oder Hans-Jochen Vogel zu Wort. Der 92-jährige Münchner
war nicht nur der Inbegriff für korrekte Arbeit, die „wandelnde
Klarsichthülle“ in Partei und Bundestagsfraktion, sondern ist auch so
etwas wie das politische Gewissen seiner Partei. Immer noch. Ähnlich
wie der Sauerländer Müntefering, der in seinem unnachahmlichen
Polit-Sprech politische Weisheiten in knappe Worte fasste: Opposition
ist Mist! Beide plädieren dafür, Regierungsverantwortung zu
übernehmen. Bis Freitag konnten die über 600 000 SPD-Mitglieder
darüber entscheiden, ob ihre Partei in eine weitere Koalition mit der
Union eintreten wird oder ob sie in die Opposition geht. Mitregieren
oder opponieren. Die Alternative ist klipp und klar formuliert. Die
jeweilige, ganz individuelle Entscheidung jeder SPD-Genossin und
jedes Genossen mag allerdings nicht die zwischen Schwarz oder Weiß
gewesen sein. Es existieren eine Reihe von Gründen für, aber auch
viele, gegen eine neue – freilich nicht mehr ganz so große – GroKo.
Offenbar macht sich niemand seine Entscheidung einfach. Und egal, wie
das Mitgliedervotum letztlich ausgeht, der SPD als Ganzes gebührt
Respekt. Sie lässt in einer entscheidenden Zukunftsfrage die Basis
entscheiden. Das ist eine Sternstunde innerparteilicher Demokratie,
von der sich andere Parteien, auch die möglichen Koalitionspartner
CDU und CSU, eine Scheibe abschneiden könnten. Vielen in der SPD mag
es dabei zuerst um das weitere Schicksal der eigenen, gedemütigten
Partei gegangen sein. Doch objektiv betrachtet, geht es um viel mehr.
Das SPD-Mitgliedervotum stellt auch die Weichen für Deutschlands
unmittelbare Zukunft. Und da lautet die Alternative nicht nur GroKo –
Ja oder Nein, sondern auch: politische Instabilität und Lähmung oder
Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Zuerst das Land, dann die
Partei, sagte Müntefering. Man muss heute hinzufügen, angesichts der
gewaltigen Herausforderungen in der Welt – von Trump, Putin, Erdogan
oder Kim Jong Un, drohender Handels- oder gar größerer militärischer
Kriege – kann sich Deutschland nicht länger das Zuschauen leisten.
Politisch hochriskante Experimente, wie etwa eine
Minderheitsregierung von Angela Merkel, sind ebenfalls nicht
verantwortbar. Diese einschneidende Erkenntnis scheint sich auch bei
vielen in der SPD Bahn zu brechen. Sonntagmorgen werden wir erfahren,
wie es die SPD mit ihrer staatspolitischen Verantwortung hält. Und so
oder so steht die künftige Parteivorsitzende Andrea Nahles vor einer
riesigen Aufgabe. Sie muss nicht nur über die Lager der GroKo-Gegner
auf der einen und der Befürworter auf der anderen Seite Brücken
bauen, sondern der SPD auch ein gemeinsames größeres Ziel vermitteln.
Sie muss zuhören und führen zugleich. Ausgleichen und moderieren,
aber auch Richtung vorgeben und vorantreiben. Die Querelen der
vergangenen Monate vor und nach der Bundestagswahl, der Hype um
Martin Schulz und dann sein unaufhaltsamer Absturz, haben die SPD in
ihren Grundfesten erschüttert. Nun sind die Qualitäten von Nahles als
„Trümmerfrau“ gefragt. Schafft sie das alles, kann sich die SPD auch
in einer Regierungskoalition „erneuern“, dann hat die Partei eine
Zukunft. Schaffen es Nahles und Co. dagegen nicht, dann droht ihnen
das Schicksal anderer sozialdemokratischer Parteien in Westeuropa,
die binnen weniger Jahre in die politische Bedeutungslosigkeit
abstürzten. Und wer in der SPD denkt, mit dem Mitgliedervotum ist am
Sonntag nun erst mal Schluss, der täuscht sich gewaltig. Nun geht es
erst richtig los. Politik ist wie Radfahren, wer nicht vorwärts rollt
und in die Pedale tritt, kippt um.
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