Mittelbayerische Zeitung: Kommentar zu Türkei

Wenn man einem anderen immer wieder die Tür vor
der Nase zuschlägt, muss man sich nicht wundern, wenn er irgendwann
nicht mehr anklopft. Insofern trifft die Feststellung von Bayerns
Innenminister Joachim Herrmann zu, dass die Türkei immer mehr von
Europa wegdriftet. Der einstige kranke Mann am Bosporus, der sich
noch vor zehn Jahren nichts sehnlicher als einen EU-Beitritt
wünschte, hat sich unter Premier Recep Erdogan zu einem
Wirtschaftswunderland und einer bedeutenden Regionalmacht gemausert.
Die Regierung in Ankara spielt immer selbstbewusster ihren wachsenden
Einfluss im Nahen und Mittleren Osten aus und gilt heute vielen in
der islamischen Welt als Vorbild. Trotz eines florierenden Handels
mit den europäischen Staaten ist die Mitgliedschaft in der EU für
Erdogan nicht mehr so wichtig – auch, weil Anti-Beitritts-Politiker à
la Herrmann die Türkei immer wieder schroff abwiesen. Fakt ist: In
dem Land herrschen immer noch gewaltige Demokratie- und
Menschenrechtsdefizite. Dabei spielt Premier Erdogan eine durchaus
zwiespältige Rolle. Einerseits gibt er sich als pragmatischer
Reformer, andererseits zertrampelt er mit stramm-nationalen
Forderungen und einem sehr beschränkten Verständnis für
Meinungsfreiheit viel Porzellan. Zwar hat Erdogan am Sonntag sein
gewünschtes Wahlergebnis verpasst. Doch immer noch würde er sich am
liebsten per Verfassungsänderung als moderner Großsultan
inthronisieren lassen. Und selbstverständlich muss die Frage erlaubt
sein, ob eine EU, die wegen des griechischen Schuldendramas die
schlimmste Krise seit ihrer Gründung durchmacht, überhaupt in der
Lage wäre, die Türkei aufzunehmen. Doch ungeachtet der vielen
Defizite im Inneren spielt das Land eine immer bedeutendere Rolle im
Äußeren, wie Erdogans aktueller Vermittlungsversuch in Libyen
beweist. Angesichts der dramatischen Veränderungen von Tripolis bis
Damaskus muss es im ureigensten Interesse Europas sein, nicht noch
mehr Einfluss im Mittelmeerraum zu verlieren. Die Türkei könnte dabei
die entscheidende Rolle spielen – als Vermittler zu den islamischen
Staaten. Für die EU hieße das, die Tür für einen Beitritt wenigstens
einen Spaltbreit offenzulassen. Es muss ja nicht gleich von einer
baldigen Vollmitgliedschaft die Rede sein. Doch von einer engen
politischen und wirtschaftlichen Umarmung könnten die Europäer
profitieren, weil sie dadurch eine Brücke in den Orient bekommen.
Wenn sie jedoch Erdogan weiter von sich wegstoßen, degradieren sie
sich selbst zu Beobachtern des Aufstiegs der Türkei zur
Hegemonialmacht in der sensiblen Region. Einen Fuß wird die EU dann
nur noch schwer dazwischenkriegen.

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